Schlafgäste  Drei  Schlafgäste hatte das „Heilige Land" in dieser düst'ren Winternacht. Der erste war ein Patriarch ohne Anhang, dessen Husten wie Würfel im Becher klang; er starb, bevor es hell wurde. Der Wirt entdeckte ihn am Morgen: gefrorene Blutklumpen klebten ihm an Lippen und Hals und waren tief im welken weißen Nest seines Bartes vergraben. Der zweite war ein Steinmetz - Granitmonumente und Meilensteine - am Schluß einer dreitägigen Sauftour. Er kotzte ins Stroh und legte sich dann zum Schlafen hinein. Schließlich war da eine alte Frau, wie eine Schneiderpuppe in zerschlissene Röcke gewickelt, die nach Mitternacht hereinwackelte und sich kopfüber in den Pferch neben dem schwangeren Mädchen fallen ließ. Dort lag sie, die Alte, ihr Atem ging wie das Reiben rostiger Zahnräder, und sie lauschte dem Stöhnen von Neds Mutter. Stöhnen. Das war nichts Besonderes. Sie schloß die Augen. Doch dann kam ein Schrei, und dann noch einer. Die Alte setzte sich auf. Im Nebenpferch lag eine Dreizehn- oder Vierzehnjährige. Ihre Stirn war schweißnaß. Ein Flaschenhals ragte aus ihrer Jacke hervor. Sie lag in den Wehen.

Die alte Vettel kroch näher heran, packte die Flasche und nahm einen Schluck. „Hee, du!" krähte sie. „Haste Probleme, kleines Bleichgesicht? Tust wohl'n Baby kriegen, was?"

Das Mädchen blickte auf, zu Tode erschrocken.

„lih-hiüh!" kreischte die Alte, womit sie die Tauben aus den Dachsparren verscheuchte. „Ich kenn das gut, oh ja. Hat 'ne Zeit gegeben, wo die Kinner aus dem alten Schoß hier rausgepurzelt sind wie Äppel vom Baum." Ihr Gesicht war abgeworfene Schlangenhaut, alterslos. Wer konnte sagen, wieviel Fleisch in ihr gewachsen war? Oder die Jahre zählen, die sie in türkischen Serails oder Berberhütten geschmachtet hatte? Wer konnte erraten, aufweichen krummen Wegen und dunklen Pfaden sie gegangen war, oder was sie gedacht hatte, als man ihr diesen Ring aus gehämmertem Gold durch die Lippe trieb?

„Helfense mir", flüsterte das Mädchen.

Es war eine Steißgeburt. Zuerst die schrumpligen Beine und das Hinterteil, dann die Schultern, das Kinn, die glatte, glänzende Kuppel des Kopfes. Die Stunde des Wolfs kam und ging, und die Alte riß Ned aus dem Leib seiner Mutter. Ihre Finger waren trocken und knotig. Sie band die Nabelschnur ab und gab ihm einen Klaps. Er wimmerte. Dann wischte sie ihm mit dem Rocksaum Blut und Schleim von seinem Körper und steckte ihn sich unter den Mantel. Sie sah sich rasch um, dann flitzte sie auf die Tür zu. Babyklau!  - T. Coraghessan Boyle, Wassermusik. Reinbek bei Hamburg 1990

Schlafgast (2)
 

Asyl Gast Schlafen

 

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