chläfer  Ich erschrak. Ich ging zu ihm hin und beugte mich über ihn. Es war ein Mann mittleren Alters; vielleicht sah er jünger aus als er war. Lange dünne Haare quollen ihm unordentlich aus einer Art Kappe hervor und klebten auf der Stirn. Sein Gesicht war breit und die Nase kurz und stumpf. Trotz der eingefallenen Wangen und einer Narbe, die seine Oberlippe verzerrte, waren die Züge weich und unbestimmt. Ja, ein wenig unheimlich, weil man ihn hätte für eine Frau halten können, wenn nicht die Kleidung gewesen wäre und die Bartstoppeln. Nur die Hand, die auf der Brust verkrallt war, war die Hand eines Mannes. Sonst aber schien es, als habe sich dieser Leib noch nicht klar entschieden, was er sein wollte. Übrigens mag es sein, daß er diesen Eindruck im Wachen nicht gemacht haben würde, und daß es im Schlaf immer so ist, weil sich das Fleisch dann erinnert, daß es von einem Weibe geboren wurde.

Das ist nun einer, mit dem ich zusammenleben soll. Ach, ein gefährlicher Gedanke! Ich versuchte zu verstehen, was er murmelte. Ich hob ihn an den Schultern etwas in die Höhe, doch er entglitt meinen Händen wieder, und sein Kopf fiel in den Lehm zurück, als ob gar keine Knochen da wären. Dabei wäre ich zu meinem Schrecken fast über ihn gefallen. Ich ging wieder auf meinen Posten und besah meine Hände voller Ekel. Es klebte etwas von dieser breiigen Masse daran, aus der dieser Schläfer zu bestehen schien. Ich überlegte: Wenn er nun so laut geredet hätte, daß die anderen davon erwacht wären und wenn er gar - denn was weiß ich von ihm? - irgend etwas von dem verkündet hätte, was vorher war, was hätte ich dann tun müssen? Und wenn er es morgen täte? Dies Gesicht war wie ein kaum gekneteter, noch nicht gebackener Teig. Ein völlig fremdes Schicksal konnte sich seiner bemächtigen und daraus etwas machen, was sich nicht berechnen ließ. Es konnte ein Bruder daraus werden oder ein höhnischer Widersacher. Aber was auch daraus geworden wäre, er wäre es nicht selbst gewesen. Auch wenn er mich beseitigt hätte, würde es nur dies Fremde gewesen sein, was als eine Hefe in diesen Teig gefahren wäre. Ich hatte Angst, gewiß! Aber nicht so sehr meinetwegen. Sollte es wieder mit einem Mord beginnen? Und nach der Tat wäre der Teig in sich zusammengefallen?  - Hans Erich Nossack, Nekyia. Bericht eines Überlebenden. Frankfurt am Main 1961 (BS 72, zuerst 1947)

Schläfer (2)   Endymion begehrt von Zeus Unsterblichkeit, ewige Jugend und immerwährenden Schlaf. In eine Höhle gebettet, werden ihm die Wünsche gewährt, doch es kann nicht verhindert werden, dass seine himmlisch schöne Schlummergestalt das Begehren der Mondgöttin erweckt. Selene säumt nicht, sich über ihn zu neigen, »den schönen Schläfer zu küssen«, und wohl auch noch mehr, denn es entsprießen ihrem Verlangen 50 Töchter. - (goe)

Schläfer (3)  »Zum Teil haben die Toten das Böse der Nacht verschuldet, zum anderen Teil Schlaf und Liebe. Für was ist der Schläfer nicht alles verantwortlich! Welcherart Umgang pflegt er, und mit wem? Mit seiner Nelly legt er sich nieder und findet sich schlafend im Arm seines Gretchens wieder. Tausende kommen an sein Bett, ungebeten. Und dennoch: wie erkennt man die Wahrheit, wenn sie nicht unter den Anwesenden weilt? Mädchen, die der Schläfer niemals begehrt hat, streuen Ihre Gliedmaßen um ihn unter des Morpheus Fuchtel. So sehr ist der Schlaf zur Gewohnheit geworden, daß mit den Jahren der Traum seine eigenen Grenzen verzehrt und das Geträumte ihm zu Heber Gewohnheit wird; ein Gelage, wo Stimmen sich mischen, einander lautlos bekämpfen. Der Schläfer ist Eigentümer eines unerforschten Landes. Er geht eigenen Geschäften nach, im Dunkel - doch wir, seine Partner, die wir in die Oper gehen, die wir dem Klatsch der Freunde im Café zuhören, die Boulevards entlangschlendern oder eine schweigsame Naht nähen, können uns das nicht leisten, wahrhaftig, nicht einen Zentimeter davon. Und wollen wir es auch mit unserem Blut bezahlen: es sind da weder Theke noch Kasse. Du, die du stehst und herniederblickst auf eine, die im Schlafe liegt - du kennst sie, die horizontale Angst, Angst unerträglich. Denn der Mensch trifft auf sein Schicksal senkrecht. Er wurde nicht geschaffen, um jenes andere zu erfahren, und nicht als Resultat eines anderen Verschwörung.

Man schlägt die Leber aus der Gans und macht pâté daraus: man zerstampft die Muskeln eines Menschen cardia und macht einen Philosophen.«   - Djuna Barnes, Nachtgewächs. Frankfurt am Main 1981 (zuerst 1936)

Schläfer (4)  Jegoruschka begab  sich zur Kalesche und begann die Schlafenden anzuschauen. Des Onkels Antlitz zeigte noch immer den Ausdruck geschäftiger Trockenheit. Da Kusmitschow ein Fanatiker seiner Geschäfte war, dachte er sogar im Schlaf und beim Gebet in der Kirche, wenn das »Welcher die Cherubim« gesungen wurde, an seine eigenen Angelegenheiten; er konnte diese auch nicht auf eine Minute vergessen, und so war es wahrscheinlich, daß er auch jetzt von Ballen mit Wolle, von Fuhren, von Preisen und von Warlamow träumte ... Vater Christofor dagegen, der ein weicher, leichtsinniger und gern lachender Mensch war, hatte in seinem ganzen Leben kein solches Geschäft kennengelernt, das gleich einer Riesenschlaiigc imstande gewesen wäre, seine Seele zu fesseln. Bei all den vielartigen Geschäften, an die er sich zeit seines Lebens gemacht, hatte ihn weniger das Geschäft an sich gelockt als vielmehr die Geschäftigkeit und der Umgang mit Menschen, die mit einem jeden Geschäft zusammenhängen. Und so interessierten ihn bei der gegenwärtigen Fahrt weniger die Wolle, Warlamow und die Preise als die lange Reise, die Unterhaltungen unterwegs, das Schlafen unter dem Wagen lind die unregelmäßigen Essenszeiten ... Jetzt aber, das konnte man seinem Antlitz ansehen, träumte er vermutlich vom hochwürdigsten Vater Christofor, von dem lateinischen Disput, von seiner eigenen Popcnfrau, von Krapfen mit saurem Rahm und überhaupt von allem möglichen, was ein Kusmitschow nie im Traum zu sehen vermocht hätte.  - Anton Tschechow, Die Steppe. Nach (tsch)
 

 

Schlaf

 

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