chläfrigkeit   Er war in einem Zustand, den er gut kannte. Es war eine Art Schläfrigkeit, in der er dennoch alles wahrnahm, was rings um ihn geschah.

Und so sah er, wie ein Chasseur auf Ellen Darroman zuging und ihr etwas sagte. Sie erhob sich und verschwand in einer Telefonzelle, in der sie nur ein paar Augenblicke blieb.

Als sie wieder herauskam, spähte sie nach Maigret aus. Dann setzte sie sich wieder zu Clark an den Tisch und sprach leise mit ihm, während sie weiter zu dem Kommissar hinsah.

In diesem Augenblick hatte Maigret das sehr deutliche Gefühl, daß etwas Unangenehmes passieren würde. Er war sich bewußt, daß es das Beste war, wenn er jetzt ging, und dennoch blieb er. Wenn er hätte erklären sollen, weshalb er blieb, wäre ihm das schwer gefallen. Er blieb nicht aus beruflicher Gewissenhaftigkeit. Es bestand keine Notwendigkeit, daß er sich noch länger in dieser Tanzbar aufhielt, in der er eigentlich nichts zu suchen hatte.

Ja, er hätte es sich nicht einmal selbst erklären können. Hatte der Untersuchungsrichter Prosper Donge nicht verhaftet, ohne sich vorher mit ihm zu beraten? Hatte er ihm nicht außerdem untersagt, sich mit dem Amerikaner zu befassen?

Das hieß so viel wie:

›Der ist nicht aus Ihrem Milieu. Sie können ihn nicht verstehen. Lassen Sie mich.‹

Und der bis in die Knochen plebejische Maigret fühlte sich allem gegenüber feindlich, was ihn hier umgab.

Dennoch, er blieb. Er sah, wie Clark ebenfalls zu ihm hinblickte, die Brauen runzelte, sicherlich seine Begleiterin bat, sitzen zu bleiben, und aufstand. Ein neuer Tanz hatte soeben begonnen. Der blauen Beleuchtung war eine rosige gefolgt. Der Amerikaner drängte sich zwischen den tanzenden Paaren hindurch und kam auf den Kommissar zu.

Für Maigret, der nicht ein Wort englisch verstand, klang das, was er sagte wieder wie: »Well you well we we well...«

Aber diesmal war der Ton aggressiv, und man spürte, daß Clark nur mühsam seine Wut im Zaum hielt.

»Was sagen Sie?«

Und der andere begann zu toben.

Am Abend sagte Madame Maigret, den Kopf schüttelnd: »Gesteh, daß du es absichtlich getan hast! Ich kenne diese Stimmung bei dir so gut. Du würdest einen Engel damit zur Raserei bringen.«

Er gestand nicht, aber seine Augen blitzten heiter. Was hatte er eigentlich getan? Er war vor dem Yankee stehengeblieben, die Hände in den Taschen seines Rocks, und hatte ihn fest angeblickt, als ob er sich über seinen Wutausbruch amüsiere.

War es seine Schuld? Er dachte immerzu an Donge, der im Gefängnis saß und nicht mit der sehr hübschen Miß Ellen tanzte. Diese, die zweifellos das Drama kommen fühlte, kam heran, aber noch ehe sie sich ihnen zugesellt hatte, hatte der tobende Clark mit einer raschen, fast automatischen Bewegung, wie man sie in amerikanischen Filmen sieht, Maigret mit der Faust ins Gesicht geschlagen.

Zwei Frauen, die am Nebentisch Tee tranken, sprangen auf und stießen einen Schrei aus. Paare hielten im Tanzen inne.

Was Clark betraf, so war er zufrieden. Er schien jetzt das Gefühl zu haben, daß die Situation geklärt war und daß er dem nichts hinzuzufügen hatte.

Maigret strich sich nicht einmal mit der Hand übers Kinn. Man hatte den dumpfen Schlag der Faust gegen seinen Kiefer gehört, aber das Gesicht des Kommissars blieb so unbeweglich, als hätte man ihm einen Nasenstüber gegeben.  - Georges Simenon, Maigret im Luxushotel. München 1977 (Heyne Simenon-Kriminalromane 59, zuerst 1942)

Schläfrigkeit (2)   Zu irgendeiner Tages- oder Nachtzeit — eine kaum sichtbare Nuance des Himmels unterscheidet diese Zeiten — erwache ich an dem Geländer der Brücke, die ins Sanatorium führt. Es dämmert. Ich muß, von der Schläfrigkeit übermannt, lange unbewußt durch die Stadt gewandert sein, ehe ich mich, zu Tode ermüdet auf diese Brücke schleppte. Ich kann nicht sagen, ob mir unterwegs die ganze Zeit über Doktor Gc-tard Gesellschaft geleistet hat, der jetzt vor mir steht und eine lange Ausführung durch die Ableitung der endgültigen Schlußfolgerungen zu Ende bringt. Hingerissen von der eigenen Beredtheit, faßt er mich sogar unter dem Arm und schleppt mich nach. Ich gehe mit ihm, doch bevor wir noch die dröhnenden Bretter der Brücke überschritten haben, schlafe ich schon wieder. Durch die geschlossenen Lider sehe ich unklar die eindringliche Gestikulation des Doktors, das Lächeln in der Tiefe seines schwarzen Bartes und versuche vergeblich, diesen kapitalen logischen Griff, diesen endgültigen Trumpf zu verstehen, mit dem er auf dem Gipfel seiner Beweisführung, regungslos mit ausgebreiteten Armen dastehend, triumphiert. Ich weiß nicht, wie lange wir noch so — in diese Unterhaltung voller Mißverständnisse vertieft — nebeneinandergehen, doch ehe ich in einem bestimmten Augenblick ganz wach werde, ist Doktor Gotard nicht mehr da, es ist ganz finster, aber nur deshalb, weil ich die Augen geschlossen halte. Ich öffne sie und bin im Bett, in meinem Zimmer, in das ich, ohne zu wissen wie, gelangt bin.  - Bruno Schulz, Das Sanatorium zur Todesanzeige. In: B. S., Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen. München 1966
 
 

Müdigkeit Schlaf

 

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