Oxydation   Der Wendepunkt der Schöpfung war der des Eintritts der Oxydation. Das Leben ist Kultus, das Leben ist Oxydation, folglich Oxydation = Kultus. Atmen wird religiöser Akt. Des Menschen Atmen ist sein Leben, die Art seiner Gottes Verehrung. Gottesverehrung aber ist Sein in Gott, Erkennen Gottes. In der Verbrennung führen wir ein göttliches Leben, ja jedes Leben ist göttlich. Der Funken, der in Ewigkeit fortzündet, ist das Sinnbild der Unsterblichkeit, und die Flamme das Sichtbarwerden Gottes, so wie er im Leben fühlbar wird. — Flamme und Leben sind die beiden Pole des Wassers. Das Wasser ist der gegenwärtige Gott und die Mitte zwischen seiner Sichtbarkeit und Fühlbarkeit. Taufe = Gottesweihe = Deifikation. — Höhere Konstruktion der Taufe im Abendmahl, als Abend- oder Nachtmahl, Leben und Flamme zusammengebracht: Leben im Brot und Wein, Flamme in der entzündeten Kerze. Wasser = Mitte von Licht und Leben. — Dritte Potenz des Wassers oder Gottes in der Liebe, Man atmet die Geliebte, und dieses Leben, mit dem Besseren der Flamme, gibt die noch höhere Mitte. In der Liebe versteht man den Sinn der Flamme noch höher als im Abendmahl.   - (rit)

Oxydation (2)

OXYDATION

Unsichtbare Flamme erhebt sich über Tischen.
Gierige Verbindung der Elemente
von etwas mit nichts,
von etwas, das man nicht ausspricht,
mit etwas, das man ausspricht,
verborgener endothermer Unrat.

Der Prozeß verläuft
zu dem einen Ohr hinein,
zum anderen hinaus,
das Gehirn mahlt vergiftete Körner,
und die große Wanderratte hinter der Glaswand
gedeiht wie der rosige Patron der Bader;
sanfter, anhaltender Aderlaß.

Wir gedeihen ins Aschgrau.
 Und in den Wimpern, Monotypen
der Fremdheit im Eigenen,
setzen sich die Oxyde des Schweigens ab
und die Hydroxyde der Resignation.

Sei's drum.

Es wird kein Gold geben.   Der Stein der Weisen
ist nicht eingeplant.
Rauch aus Schulheften und Zeichnungen sinkt in die Münder.

Fehlen uns Worte, applaudieren wir.

Und innen,
innen in dieser Retorte aus Menschenhaut
setzt sich eine hohe Aschenstatue ab,
mit tränigen Augen,
mit weißen, zittrigen Lippen,
sie wiederholen in Nächten, wenn
die Wurzeln tanzen und der Stern pfeift,
das leere, aschige Urwort
Dann Dann Dann Dann.

 

Man könnte glauben, im Gedicht >Oxydation< gehe es gerade ums Innere, um einen eng-subjektiven ProzeO; doch dem ist nicht so: es geht um einen allgemein subjektiven Prozeß, um einen Prozeß vieler, sehr vieler Menschen und Gemüter. Vom Standpunkt des Autors ist es nicht weniger ein Gedicht objektiver Realität als das Gedicht über die Ermordung des Archimedes.

Das Gedicht basiert auf einer grundlegenden Metapher, auf dem Vergleich des psychologischen und moralischen Prozesses im Menschen mit der chemischen Reaktion. In dieser Metapher sind a priori Sinn und Aussage enthalten: der Prozeß menschlicher Aussöhnung und geistiger Erweiterung ist kein aktiver, gestalterischer und offensiver Prozeß, sondern ein passiver wie das Glimmen, ein natürlicher wie das Holzhacken und ein schützender wie das Schließen der Tür bei Zugluft. Das freundliche Wort von der geistigen Erweiterung ist Ausdruck des Bemühens, aus der Not eine Tugend zu machen.

Die einzelnen Absätze des Gedichtes haben die grundlegende Metapher und die Aussage lediglich näher zu qualifizieren, die konklusive Ausmündung vorzubereiten, in einem gewissen Maß sogar die Konklusion hinauszuschieben, nicht wegen des Zeilenhonorars, sondern um die notwendige Zeit zum Reifen des Unbekannten zu gewinnen; ist doch nach Shelley das ein Gedicht, wodurch Bekanntes die Möglichkeit erhält, in der Gestalt des Unbekannten zu erscheinen.

Miroslav Holub

- Miroslav Holub, nach (frach)

Reaktion, chemische Sauerstoff Verbrennung

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