achlaufen
»Am liebsten wäre ich damals schon davongelaufen. Ich blieb nur,
um zu einer Zeit davonlaufen zu können, wo ich dir die meisten Rätsel
zu knacken geben würde. Wo es ganz unwahrscheinlich und unerklärlich erscheinen
mußte, daß ich davonlief. Daher meine ausgelassene Stimmung in Mentone und Cap
d'Ail. Und weißt du, weshalb ich in Monte plötzlich in dein Zimmer kam, scheinbar
ganz grundlos? Nur um zu sehen, ob du nicht vielleicht doch nicht wolltest,
daß ich mit Flinsparker... Und als ich nachher, gegen drei Uhr morgens, nochmals
zu dir kam, wieder scheinbar ganz grundlos, kam ich nur, um zu sehen, ob du
vielleicht jetzt anders wärst. Statt dessen warst du nicht einmal mau und lau
wie die andern, sondern sogar entzückt darüber, daß es geschehen war. Oder tatest
bloß so, um mich zu ärgern. Ich bemerkte aber auch, daß du während des folgenden
Gesprächs zum ersten Mal weniger beteiligt warst als sonst, zum ersten Male
nicht deine ganze Energie... couçi couça zum Dichten verwendetest, zum ersten
Mal beinahe gleichgültig warst. Du gabst dir nicht einmal die selbstverständlichste
Mühe, meine gefährlichen Fragen auch nur halbwegs geschickt zu beantworten.
Das aber war nur möglich, nachdem ich mit einem andern geschlafen hatte. Das
ist immer so. Bei dir aber hätte es nicht so sein dürfen. Bei dir nicht. Du
hättest... V'lan, weißt du, womit ich zu halten gewesen wäre? Du hättest mich
lieben müssen und deshalb verlassen. Du - mich. Dann wäre ich dir nachgelaufen
und hätte dich vielleicht niedergemacht, wenn du nicht bei mir geblieben wärst.
Ich hielt dich für den einzigen Mann, der dazu fähig gewesen wäre, mir davonzulaufen.
Und mir muß man davonlaufen, wenn man mich liebt. Du aber bist mir nachgelaufen
wie alle andern. Und ich bin dir davongelaufen, als ich ganz sicher wußte, daß
du mir nie davonlaufen würdest. Nie. Und das wußte ich, als du mir sagtest,
daß auch ich dein erbittertster Feind wäre. Denn so was sagt ein Mann nur, um
sich besonders raffiniert vom Gegenteil zu überzeugen. Und ich wiederhole dir,
daß ich immer dein erbittertster Feind war. Denn hätte ich ganz erreicht, was
ich wollte, so wärst du mir davongelaufen, hättest mich, die ich dir dann nachgelaufen
wäre, zurückgestoßen und ich hätte dich dafür niedergemacht oder... Bah! Jedenfalls
wäre es dir sehr übel bekommen... Übrigens, glaubst du denn wirklich, ich hätte
nicht gewußt, daß du mich seit Wochen in ganz Paris suchst? In jedem Loch!«
Sie hatte sich so in Hitze geredet, daß sie die Übersicht über das, was sie
noch sagen wollte, verlor und fast auch die Stimme, die ihr während der letzten
Sätze nicht mehr gehorchte.
- Walter Serner, Die Tigerin. Eine absonderliche Liebesgeschichte.
München 1982 (dtv 10054, zuerst 1925)