Mann im Mond   Es versammelte sich eine erstaunliche Menge Volks. Ich hatte mich, so gut ich immer konnte, in einen Chaldäer vermummt; ein langer weißer Bart und ein Mantel, mit allen Tieren des Sternhimmels bemalt, machte einen vortrefflichen Effekt; - man lechzte von Erwartung unerhörter Dinge bei meinem Anblick. Alles wurde stille, wie ich mich zu räuspern anfing. Ich fing also an und sprach - ich gebe euch zehen Tage, oder zehen Olympiaden, wenn ihr wollt, zu erraten, wovon ich sprach; - ihr werdet eher alles andre raten - vom Mann im Monde sprach ich.

Ich unterließ nicht, meine Zuhörer in dem Eingang meiner Rede mit einem so emphatischen Schwunge zu dem, was ich ihnen sagen würde, vorzubereiten, daß sie kaum erwarten konnten, bis ich würklich zur Sache schritt. Aber ich muß noch lachen, wenn ich mir den komischen Ausdruck von Erstaunen, Überraschung, Ungeduld und zwanzig ändern Affekten wieder vorstelle, der mir in der possierlichsten Vermischung aus unzählichen verzerrten Gesichtern entgegenkam, wie ich ankündigte, daß ich sie vom Mann im Monde unterhalten würde.

Einer sah den andern an und murmelte - vom Mann im Monde! - Alle ohne Ausnahme sahen wie Leute aus, die sich gewaltig in ihrer Erwartung betrogen fanden. - Vom Mann im Monde!

»Ja, vom Mann im Monde«, rief ich, ohne mich aus der Fassung setzen zu lassen; »von der wunderbarsten, wichtigsten und geheimnisvollesten Materie, wovon jemals ein Sterblicher zu Sterblichen gesprochen hat; vom Mann im Monde

»Der alte Knabe ist ein Narr«, rief einer ziemlich laut, »oder er hält uns für Narren.« - Es könnte wohl beides sein, dacht ich.

Der dritte Teil der Versammelten machte Miene, davongehen zu wollen. - »Seid ihr klug«, rief ihnen ein alter hohlaugichter Schuhflicker zu, welcher selbst so aussah, als ob er aus irgendeinem Planeten gebürtig wäre; »konntet ihr von einem Weisen aus Chaldäa weniger erwarten? Sagte er nicht, daß er von unerhörten Dingen reden würde? Man muß ihn erst anhören, eh man urteilen kann; ich habe mehr Leute gesehen, es stecken Dinge hinter ihm, die man ihm nicht an der Nase ansieht; und gerade weil die Materie, wovon er sprechen will, närrisch scheint, wollt ich um meinen Kopf wetten, daß ein Geheimnis unter der Decke liegt. Wer weiß - Kurz, ich will den Mann im Mond kennenlernen - ein andrer kann auch tun, was er will.«

Was der Schuhflicker gesagt hatte, war, dem Ansehen nach, gerade, was der größte Teil der Versammlung dachte; - und nachdem der Lärm eine Weile gedaurt hatte, kam am Ende heraus, daß jedermann dablieb und wenigstens hören wollte, was man wohl vom Mann im Monde werde sagen können.

Ich fuhr fort - soviel ich mich erinnern kann, ungefähr wie folget:

»Nach dem, was ich euch angekündiget habe, meine Herren von Athen, scheint nichts billiger von mir erwartet werden zu können, als daß ich euch vor allen Dingen eine solche Erklärung von dem, was unter dem Mann im Monde zu verstehen sei, gebe, mittelst welcher ein jeder, sooft die wellenförmige Bewegung der Töne, aus welchen dieser Name besteht, sein Trommelfell erschüttert, denjenigen bestimmten Begriff damit verknüpfen könne, der keinem andern Mann in der Welt zukommt als dem Mann im Monde.

Dem ersten Anschein nach eine sehr billige Forderung, aber in der Tat, meine Herren von Athen, eine Forderung, welche so schwer zu befriedigen ist, daß ihr mir eben so leicht zumuten könntet, den Ozean in einen Pokal zu schöpfen und - dafern es Wein von Thasos wäre - ihn auf eure Gesundheit auszutrinken.

Es gibt viele Dinge in der Welt, welche beim ersten Anblick nicht die geringste Schwierigkeit zu haben scheinen; man glaubt sie so gut zu kennen als die Mutter, die uns geboren hat. Kommt es aber dazu, daß wir den Mund auftun sollen, um etwas Kluges davon zu sagen, so findet sich ein Mann beinahe in der Notwendigkeit, ihn unverrichteter Sachen wieder zuzuschließen, so weit er ihn aufgemacht hat. So ist, zum Exempel, nichts leichter zu sagen als: wir wollen vom Mann im Monde reden; oder - laßt doch hören, was man vom Mann im Monde sagen kann. Aber ich berufe mich auf eure eigene Empfindung, wie euch zumute wäre, wenn ihr euch anheischig gemacht hättet, von einem Dinge zu reden, das weder in die Sinne fällt noch ohne Sinne begriffen werden kann. Aufrichtig zu reden, ungeachtet ich als ein Philosoph verbunden bin, niemals einiges Mißtrauen in die Allgemeinheit und Unfehlbarkeit meiner Einsichten zu verraten, so sehe ich mich doch in einiger Verlegenheit, ob ich von der Würklichkeit des Mannes im Mond oder von seiner Möglichkeit zuerst reden soll. Damit er würküch sein könne, muß er möglich sein, und damit er möglich sei, muß er würklich sein können. Hier liegt der Knoten! Sag ich, der Mann im Mond ist möglich, so denke ich entweder nichts bei dem, was ich sage -welches freilich das bequemste ist -, oder ich setze in der Tat voraus, daß er sei; denn wie könnt ich sonst sagen, er ;sei möglich. Es ist gerade, als sagt ich, der Mann im Mond ist blau, oder großnasicht, oder er ist ein guter Mann; - denn bei dem allen setz ich voraus, daß ein Mann im Mond ist, oder es wäre lächerlich zu sagen, er ist dies, oder er ist jenes; und man würde im Grund eben so viel sagen als: das Ding, das nicht ist, ist etwas. - Sag ich auf der andern Seite: der Mann im Mond ist würklich, so setze ich seine Möglichkeit voraus, von der ich doch nichts Zuverlässiges sagen kann, solang ich sie nicht untersucht habe; - und untersuch ich sie, flugs bin ich wieder in dem verwünschten Zirkel, in welchem ich mich ewig von Möglichkeit zu Würklichkeit und von Würklichkeit zu Möglichkeit herumdrehe, bis mir endlich der Kopf so schwindlicht wird, daß ich die ganze Welt, den Mann im Mond und meine eigene Wenigkeit aus dem Gesicht verliere. Bei so bewandten Umständen weiß ich Ihnen und mir nicht anders zu helfen, als daß wir uns entweder mit dem einfältigen non liquet ausreden - und eh ich mich dazu bequemte, wollt ich lieber den Kopf verlieren -, oder daß wir einen Anlauf nehmen und mit so vieler Dreistigkeit, als uns möglich ist, schlechterdings behaupten, der Mann im Mond existiere so gut als Hermes Tris-megistus oder irgendein andrer Mann in der Welt, und das um so mehr, als kein andrer Mann in der Welt lebt, gegen den sich nicht die nämlichen Zweifel erregen ließen. In welchem Betracht ich gestehe, daß mir der Beweis des tiefsinnigen Hera-clitus noch immer die meiste Genüge tut, der, um auf einmal aus der Sache zu kommen, sagt: ›Der Mann im Mond ist da, denn wie könnte er sonst der Mann im Monde sein?«

Nachdem wir uns denn solchergestalt aus dieser ersten Schwierigkeit glücklich herausgewickelt haben, so entsteht die andre große Frage: Wenn der Mann im Mond ist, was ist er dann?

Hier, meine Herren, öffne ich euch die Pforte des metaphysischen Abyssus. Undurchdringliche Dunkelheit scheint hier euern forschenden Bücken auf ewig Einhalt zu tun. Aber lasset euch nicht dadurch abschrecken; wir schauen so lange hinein, bis wir etwas sehen. - Ich verrate euch hier ein Geheimnis; eure Philosophen werden böse werden; aber ich mache mir nichts daraus. Nur immer hineingeschaut, meine Herren; wir haben kein ander Mittel, Entdeckungen in terra incognita zu machen.

Seht ihr noch nichts? - Gut; wir wollen erst unsre Augen in die gehörige Disposition setzen; höret an! Als ich zuerst anfing, mich um den Mann im Mond zu bekümmern, ohne zu wissen, wie Ich es anfangen sollte, ging ich bei allen Philosophen herum und fragte sie, was sie davon wüßten. - ›Der Mann im Mond?‹ sagte der erste, an den ich mich wandte; ›es ist so leicht nicht, ihn kennenzulernen; wenn Ihr aber entschlossen seid, das Abenteuer zu unternehmen, so kommt alles darauf an, daß Ihr ausfindig macht, was er ist und wie er's ist. - Das ist eben die Sache‹, sagt ich.

Ich ging von Haus zu Haus, um £u hören, was man mir auf diese Fragen antworten würde. Und hier erfuhr ich die Wahrheit des alten Sprüchworts; ausgenommen, daß ich würklich einen guten Teil mehr Sinne als Köpfe herausbrachte.

›Der Mann im Mond ist kein eigentlicher Mann‹, sagten einige; ›man könnte eben so gut sagen, die Frau im Monde, ob er gleich, richtig zu reden, weder Mann noch Frau ist. - Denn wenn er würklich ein Mann wäre, so müßte er eine Frau haben, oder seine Mannheit wäre ohne zureichenden Grund; nun hat man aber nie von einer Frau im Monde oder von der Frau des Mannes im Monde reden gehört, also etc.‹

›D!e Wahrheit ist, daß er gar nichts Ähnliches mit uns hat‹, sagte ein andrer.

›Das ist unmöglich,‹ sprach der dritte; ›er muß uns doch immer ähnlicher sein als einer Auster oder einem Titanokeratophyton‹.

›Ich beweise meinen Satz‹, versetzte jener: ›AIles, was unterm Mond ist, ist nicht im Mond, und umgekehrt; und es muß ein Grund sein, warum es unterm Mond und nicht vielmehr im Mond ist, wo es sich vielleicht eben so gut befände; nun stimmen alle Leute überein, daß der Mann im Mond - im Mond ist.‹

›Wenn er im Mond ist, concedo‹, fiel ihm dieser ein; ›aber ich getraue mir zu behaupten, daß er vielleicht zween Dritteile vom Jahr in der Venus ist oder daß er sich wenigstens den Winter über, der im Monde ziemlich kalt sein mag, dort auf-hält.‹

›Fi‹, sagte jener, ›wie wolltet Ihr das beweisen können, da warm und kalt nichts Absolutes ist? Natürlicherweise ist die Organisation des Mannes im Monde seinem Aufenthalte gemäß; und weil dieser, wie alle Astronomi wissen, feucht und kalt ist, so muß auch der Mann im Mond ein ausgemachter Phlegmaticus sein; ist er aber das, so läßt sich ohnehin nicht begreifen, was man in der Venus, welche der Planet der Liebe ist, mit ihm anfangen wollte.‹

›Die Herren sprechen sehr zuversichtlich von dem guten Mann im Monde‹, sprach ein vierter, ›und doch bin ich gewiß, daß sie nicht mehr von ihm wissen als ich, das ist, so viel als nichts. Denn ich behaupte, man müßte wenigstens einen Sinn mehr haben als die fünf oder sechse, die wir haben, um sich eine richtige Idee von ihm machen zu können. Nach unsrer Art zu reden ist er weder groß noch klein, weder hitzig noch frostig, weder sauer noch süße, weder weiß noch schwarz; - er ist - das mag er selbst wissen, was er ist!‹

Die Meinung dieses letztern führte offenbar zum Skeptizismus, der uns andern Dogmatikern von jeher so verhaßt gewesen als - die Philosophie der Gymnosophisten der Schneidergilde. Indessen, da ich doch nach allem, was mir die weisen Männer gesagt hatten, weder mehr noch weniger von der Sache wußte als zuvor, so beschloß ich, einen Versuch zu machen, wie weit mich mein eigenes Nachdenken in dieser äußerst dunkeln Materie führen könnte.

Wenn es seine Richtigkeit hat, sagt ich zu mir selbst, daß ein jedes Ding das ist, was es ist, so kann ich ohne mindestes Bedenken zum Grunde legen, der Mann im Monde sei der Mann im Monde. Ich habe schon viel damit gewonnen, wenn ihr mir das zugeben müßt - denn so ist er also

nicht der Mann im Merkur,
noch im Mars,
noch im Jupiter,
noch im Saturnus usw. Er ist auch
nicht der Mann im Tierkreise,
noch in der Milchstraße,
noch im Feuerhimmel,
noch im leeren Raum,
noch im Chaos, - sondern würklich und wahrhaftig der Mann im Monde; und da er das ist, so ist er auch
weder Fisch,
noch Vogel,
noch Amphibion,
noch Insekt
- er kann weder schwimmen noch fliegen -,
wiewohl ich für die Gewißheit des letztern nicht gutsagen wollte; denn vielleicht ist es im Monde möglich, ohne Floßfedern zu schwimmen und ohne Flügel zu fliegen, oder er könnte auch Flügel und Floßfedern haben, ohne darum weniger Mann im Monde zu sein.

Eben so wenig getraue ich mir aus seiner bloßen Identität mit sich selbst zu bestimmen, ob er

von Essen und Trinken wie wir,
oder von der Luft wie der Paradiesvogel,
oder vom Sonnenschein wie der Phönix,
oder von Ideen wie Platons Geister lebt.

Ob er sein Geschlechte fortpflanzt oder nicht; und erstenfalls,
ob er dazu ein Weibchen seiner Gattung von-nöten hat
oder ob er sich mit sich selbst begehen kann wie unsre Schnecken.

Ob er sich durch die Wurzel,
oder durch Zwiebeln,
oder durch Knospen,
oder durch Schößlinge,
oder durch Eier,
oder durch lebendige Junge fortpflanzt;
- oder vielleicht, wie der Phönix, immer der einzige von seiner Art bleibt und von Zeit zu Zeit wieder aus seiner Asche hervorgeht.

Ob er lang oder kurz,
fett oder mager,
blond oder braun,
gut oder bösartig,
gelehrt oder unwissend,
ein guter oder schlimmer Poet ist,
ob er gut tanzt,
gut reitet,
gut Quadrille spielt usf.

Alle diese und zwanzig andre Fragen dieser Art, welche ein jeder, auch mit dem mäßigsten Grade von Witze, sich selbst machen kann, werden, wie ich besorge, nicht wohl beantwortet werden können, solange wir nicht Mittel finden, - den Mann im Monde näher kennenzulernen, ob ich gleich überhaupt nicht ungeneigt bin zu glauben, daß er - falls er so allein im Mond ist, wie man vorauszusetzen pflegt - ziemlich oft Langeweile haben und überhaupt kein Mann von sehr angenehmer Laune oder lebhaftem Umgang sein mag.

Doch wie gesagt, meine Herren, die Ehre, alle nur ersinnliche Probleme, welche sich über oft besagten Mann im Monde aufwerfen lassen, gründlich aufzulösen, ist lediglich demjenigen unter un-sern philosophischen Abenteurern aufbehalten, der sinnreich oder glücklich genug sein wird, den Weg in den Mond zu entdecken, dauern einer ist; oder sich einen Weg dahin selbst zu machen, dafern keiner ist; und - welches zum wenigsten eben so notwendig scheint - den Weg wieder zurück zu finden, nachdem er sich lange genug da aufgehalten haben wird, um eine hinlängliche Anzahl von Beobachtungen machen zu können; vorausgesetzt, daß es überall möglich sei, mit Hülfe solcher Sinnen wie die unsrige über einen Mann, wie der Mann im Mond ist, irgendeine Entdeckung zu machen.

Ihr seht, meine guten Athenienser, daß ich eure Aufmerksamkeit nicht gemißbraucht und, alles wohl erwogen, vielleicht mehr geleistet habe, als ihr billigerweise von mir erwarten konntet. Wenige meiner Zunftgenossen würden sich so aufrichtig herausgelassen und so wenig Umschweife gemacht haben, um euch auf eine gelehrte Art zu erkennen zu geben, daß sie nicht wissen, was sie sagen.

Übrigens hoff ich, dem Mann im Monde selbst, wer er auch sein mag, durch das, was ich von ihm gesagt oder vielmehr nicht gesagt habe, auf keinerlei Weise zu nahe getreten zu sein. Er hätte sich vielleicht beleidiget finden können, wenn ich unverschämt genug gewesen wäre, ein System über ihn zu machen und mit der gewöhnlichen Dreistigkeit meiner Amtsbrüder euch seine Figur, seine Farbe, seine Organisation, seine Fähigkeiten, Sitten, Lebensart, Religion, kurz, alle seine innerlichen und äußerlichen Bestimmungen vorzude-monstrieren. - Aber ich, was könnt ich Unschuldiger von ihm sagen, als - - - gar nichts- Christoph Martin Wieland, Sokrates Mainomenos oder Die Dialogen des Diogenes von Sinope. Leipzig 1984 (zuerst 1769 f.)

Mond Mann

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