ilientier DAS
Lilientier ist nicht im eigentlichen Sinn ein Tier; im Gegenteil: es ist sanft,
und auch lind, das Lilientier rennt nicht, im Gegenteil: es kann genau besehen
Jahre in absoluter und minutiöser Reglosigkeit verharren. Das Lilientier ernährt
sich nicht vom Fleisch lebender Wesen, trotzdem verhält es sich so, als hätte
es schon welches gefressen, es hat, so heißt es, eine Art Geschmacksgedächtnis,
in welchem sich auch Spuren von getötetem und verschlungenem Tierfleisch finden
— während es doch infolge seiner Lindheit weder Mund noch Zähne besitzt und
darum absolut kein Fleisch von getöteten Lebewesen fressen könnte. Trotz dieser
seiner Wesenszüge wird das Lilientier als wildes, schnelles und fleischfressendes
Tier studiert und klassifiziert. Wie die Experten versichern, gibt es keine
andere angemessene Art, es zu beschreiben, auch wenn sie zugeben, daß das Lilientier
keine der typischen Verhaltensweisen wilder, schneller und fleischfressender
Tiere aufweist. In Wahrheit aber wissen alle — sowohl die Wissenschaftler, die
das Lilientier auf schweigsamen Diapositiven oder vom Hörensagen zaghaft lüsterner
Kaffeehausgeschichten studieren, als auch die Einheimischen — daß das Lilientier
getötet werden muß, und daß man es gerade darum töten muß, weil es lind, statisch
und abstinent ist. Alle diese Eigenschaften, die theoretisch ein harmloses und
geselliges Haustier aus ihm machen könnten, verleihen ihm eine furchterregende
weil schleichende Macht, obwohl es schwerfällt zu sagen, in welcher Weise dieses
Tier sich einschleicht. Kurz: es ist wild nicht obwohl, sondern weil es lind
ist, und wer immer seine Lindheit züchtet, wird daran sterben. Es scheint also
sicher, daß das Lilientier auf paradoxale Art wild ist, was zur Folge hat, daß
man es töten muß. Doch gerade das ist schwer. Es scheint kein Herz zu haben,
das man durchbohren, keinen Kopf, den man abhauen, kein Blut, das man vergießen
könnte. Alle jene, die versucht haben, es mit Pfeilen — auch den bedrohlicheren
harzbrandgetränkten — zu töten (es zu treffen ist nicht schwer, da es, wie gesagt,
reglos verharrt) haben es durchbohrt, ohne ihm Schaden zuzufügen, sich ihm zu
nähern, um seinen Körper— aber kann man da überhaupt von »Körper« reden? — mit
Scherenstichen zu versehen ist ungemein gefährlich, da das Lilientier aus der
Nähe seine schreckliche Lindheit ausüben kann. In Wirklichkeit kennt man absolut
keine Art, wie man das Lilientier auf sichere Weise töten könnte, aber die Einheimischen
schlagen folgende Weise vor: mit Pfeilen schießen, indem man in die entgegengesetzte
Richtung zielt, hundert Jünglinge anwerben, die dem Lilientier reihum reglos
zulächeln, schließlich — und das ist nachweislich die beste Methode — es im
Traum töten, und zwar auf folgende Weise: man nehme den Traum, in dem sich das
Lilientier befindet, rolle ihn zusammen und zerreiße ihn dann — ohne Gebärde
des Zorns, aber das Lilientier läßt sich nur selten träumen. - (
pill
)