Lesestoff    Er schien besänftigt. Während ich die Schublade langsam zuschob, sah er mich verstohlen an. Dann hörte ich ihn losschimpfen und mir fiel ein, daß ich ihm nichts zu lesen mitgegeben hatte. Mein Vater ist ein ungebildeter Mann, doch hat er stets bestimmte stereotype und repetitive Lektüren gepflegt: umfangreiche Eisenbahnkursbücher vom Anfang des Jahrhunderts (er schleppt sich von Wort zu Wort und buchstabiert dabei lauthals die Stationsnamen und die Abfahrts- und Ankunftszeiten); weiter eine seltsame Mischung aus Ariost und Tasso, von einem mit ihm (und natürlich auch mit mir) verwandten Psychiater während eines langandauernden Anfalls von hochspezialisiertem Wahnsinn eigens für ihn zubereitet; schließlich eine Reihe von erotischen Opuskeln, erdacht für den Tag, an dem die Frösche und Schmetterlinge die Pornographie entdeckt haben werden. Ich öffnete die Schublade und warf meinem Vater einige Seiten aus einem alten Fernsprechalmanach hinein, in welchem die Teilnehmer, wie früher üblich, stammbaumweise aufgeführt sind, und wo auch der Nummerncode mehr oder weniger dem Familienkataster folgt. Als ich die Schublade wieder zuschob, vernahm ich einen grauenvollen Fluch, der diesmal jedoch Ausdruck der Freude war, denn mein Vater liebte dieses kuriose Buch ganz ungemein - so sehr, daß während der Lektüre, die wegen der riesigen Dimensionen der Wegstrecke nur zögernd vonstatten ging, sich sein Schließmuskel vor lauter Rührung weitete und er die Schublade mit einem fauligen Modergeruch erfüllte, der bei ihm alle Töne und Weisen einer kritischen Äußerung annahm.   - Giorgio Manganelli, Unschluß. Berlin 1978
 

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