ruzifix Er
stürzte über den ansteigenden Fußboden um das Tischende herum auf die
Hexe zu und entriß ihr das Messer; klirrend fiel es in den engen, dreieckigen
Abgrund. Aber gleich darauf hatte sich das Blatt gewendet; denn diese mörderischen
Klauen hatten sich mit eisernem Griff um seinen Hals
geschlossen, während das runzlige Gesicht sich in irrsinniger verzerrte. Er
fühlte, wie die Kette des billigen Kruzifixes in seinen Nacken einschnitt,
und fragte sich in seiner Bedrängnis wie die böse Kreatur auf den Anblick des
Kreuzes reagieren würde. Ihre Kraft war absolut übermenschlich,
aber während sie ihn weiter würgte, griff er schwächer werdend in sein Hemd,
holte das metallene Symbol heraus und riß es mitsamt
der Kette vom Hals.
Beim Anblick des Kreuzes fuhr die Hexe entsetzt zusammen, und ihr Griff lockerte
sich so weit, daß Gilman sich befreien konnte. Er riß die stählernen Klauen
von seinem Hals und hätte die Alte über den Rand des Abgrundes
gezerrt, wenn ihre Klauen nicht neue Kraft bekommen und sich wieder um seinen
Hals geschlossen hätten. Aber diesmal entschloß er sich, Gleiches mit Gleichem
zu vergelten, und faßte mit seinen eigenen Händen nach ihrem Hals.
Bevor sie bemerkte, was er tat, hatte er die Kette des Kruzifixes um ihren Hals
gewickelt und einen Augenblick später so fest zugezogen, daß ihr der Atem abgeschnürt
war. Während ihrer letzten Zuckungen spürte er einen
Biß an seinem Knöchel und sah, daß Brown Jenkin ihr zu Hilfe gekommen war. Mit
einem einzigen wütenden Tritt schleuderte er das Scheusal
über den Rand des Abgrunds und hörte es irgendwo weit unten winseln.
- H. P. Lovecraft, Träume
im Hexenhaus.
In: H. P. L., Das Ding auf der Schwelle. Frankfurt am Main 1976 (st 357)
Kruzifix (2) Begegnet einem in einer verlassenen Gasse oder auf dem Marktplatz morgens, abends, mittags einer von Madame Pôs Leuten, der den großen Lieben Gott aus Porzellan schleppt, so denkt man bei sich: «Der arme Herr Soundso hat das Zeitliche gesegnet. Madame Pô weiß es schon und schickt ihm ihren Kruzifixus.» Es gibt allerdings auch nichts Weißeres in der ganzen Stadt als diesen Christus auf seinem Kreuz aus dunklem Buchsbaum, der am Fußende des Bettes dieser alten Frau aufragt, und weder bei dem Herrn Pfarrer noch in der Kirche findet man seinesgleichen. Madame Pô wäscht sich nie, aber sie säubert ihren Christus auf das sorgfältigste mit feinen Tüchern und wohlriechenden Essenzen. Jammervoll schlägt sie bei dieser Waschung ihre dicken, zu Hühnerkrallen verschrumpften Nägel in die Wunden Gottes, ehe sie sich anschickt, ihre harten, entfleischten, fast schon nicht mehr vorhandenen Altweiberlippen dem Totenkopf und den beiden gekreuzten Knochen zu den Füßen Jesu zu nähern. Demütig wird hier der glühendste Liebeskuß dargebracht, womit Madame Pô ihren Gottesdienst beschließt.
Madame Pô beruhigt sich erst wieder, wenn ihre Toten begraben sind. Der letzte
Tote ist allein vorhanden für sie auf der Welt, bis das letzte Gebet über ihn
gesprochen ist. Vielleicht sind überhaupt nur die Toten vorhanden für sie. - Marcel Jouhandeau, Herr
Sarciret oder Der Kruzifixus aus Porzellan. In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964
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