Kirchengedanken  «Wir machen es wie die anderen, klar?» flüsterte Morse, als das traurig-mahnende Geläut der Kirchenglocke verstummt und der Chor in feierlicher Prozession aus der Sakristei über den Hauptgang geschritten war, gefolgt von den Weihrauchschwenkern, Meßgehilfen und Fackelträgern, dem Zeremonienmeister und drei würdigen Gestalten, die ähnlich, aber nicht identisch gekleidet waren. Der letzte trug Albe, Barett und Meßgewand. Im Chor nahmen die Mitwirkenden rasch und routiniert ihre gewohnten Plätze ein, dann herrschte wieder Ruhe. Ruth Rawlinson, in schwarzem quadratischen Chorhut, stand unmittelbar unter einem steinernen Engel. Inzwischen hatte auch der Kirchenälteste lautlos seinen Platz eingenommen und reichte Morse einen Zettel: « Satz: Iste Confessor. Palestrina», worauf Morse weise nickte und ihn an Lewis weiterreichte.

Zur Halbzeit legte eine der würdigen Gestalten das Meßgewand ab und bestieg die Kanzel, um die Gemeinde vor den Gefahren und Torheiten der Unzucht zu warnen. Morse saß da wie jemand, der diese Mahnung nicht so recht auf sich zu beziehen weiß. Vorher hatte sich sein Blick ein- oder zweimal mit dem von Ruth gekreuzt, aber die Sängerinnen waren jetzt alle hinter einer dicken achteckigen Säule außer Sicht. Er lehnte sich zurück und betrachtete die rautenförmigen Buntglasscheiben - dunkles Rubin, Rauchblau, leuchtendes Smaragdgrün - und dachte unbestimmt an seine Kindheit zurück, wo er auch im Chor gesungen hatte.

Auch Lewis verlor, wenn auch aus anderen Gründen, bald jedes Interesse am Thema Unzucht. Da es ihm ohnehin nicht lag, den Blick begehrlich auf seines Nachbarn Weib zu richten, knobelte er statt dessen wieder einmal an dem Fall herum. Ob sich wohl Morses Aussage bestätigte, daß der Kirchgang bestimmt irgendwelche Assoziationen auslösen würde?

Es dauerte zwanzig Minuten, bis der Prediger mit seinen Auslassungen über die Fleischeslust zu Ende gekommen war. Dann verließ er die Kanzel, verschwand hinter einer Trennwand in der Marienkapelle und kam, wiederum im Meßgewand, im Chor heraus. Das war das Zeichen für die anderen beiden Mitglieder des Triumvirats, aufzustehen und im Gleichschritt zu ihrem Mitbruder an den Altar zu marschieren. Der Chor hatte wieder Palestrina beim Wickel, und mit zahlreichen Kniefällen und Kreuzeszeichen steuerte die Messe ihrem Höhepunkt zu. «Nehmt und eßt, das ist mein Leib», sagte der Priester, und seine zwei Helfer verbeugten sich in perfekter Übereinstimmung zum Altar hin, als seien sie ein einziger Mensch.

Morse dachte daran, wie er als Kind mit seinen Eltern im Variete gewesen war. Da hatte eine Frau vor einem großen Spiegel getanzt, und zuerst war er aus der Sache überhaupt nicht schlau geworden. Die Frau war gar nicht mal besonders gelenkig, und trotzdem waren die Zuschauer hingerissen. Endlich war der Groschen gefallen. Sie hatte gar nicht vor einem Spiegel getanzt. Das scheinbare Spiegelbild war in Wirklichkeit eine zweite Tänzerin, die die gleichen Schritte, dieselben Bewegungen machte, das gleiche Kostüm trug. Es waren zwei Frauen und nicht eine. Konnte es in der Nacht, als Josephs ermordet wurde, dann nicht auch zwei Priester gegeben haben?

Wieder erhob sich seine Phantasie in schwindelnde Höhen.  - Colin Dexter, Eine Messe für all die Toten. Reinbek bei Hamburg 1986

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