indfeind  Bei der Lesung des Evangeliums in der Kirche, wo alle standen, spürte ich hinten in der Kniekehle einen leichten Schlag, fast nur einen Stups, aber genug, daß ich einknickte. Ich drehte mich um und sah den andern, der vor sich hinstarrte. Von diesem Augenblick an ließ er mir keine Ruhe mehr. Er schlug mich nicht, warf nicht mit Steinen, beschimpfte mich nicht - versperrte mir bloß jeden Weg. Sowie ich aus dem Haus trat, war er neben mir. Er kam sogar ins Haus herein - es war in den Dörfern ja üblich, daß die Kinder in die Nachbarhäuser gingen - und rückte mir auf den Leib, so unauffällig, daß es niemand sonst merkte. Seine Hände gebrauchte er nie; alles, was er tat, das waren kleine Schulterstöße (nicht einmal ein Rempeln zu nennen, wie etwa beim Fußball), die aussahen, als wollte er mich freundschaftlich auf etwas aufmerksam machen, und mich in Wahrheit in eine Ecke gezwängt hielten. Doch in der Regel berührte er mich nicht einmal, sondern äffte mich nur nach. Wenn ich irgendwo ging, sprang er zum Beispiel aus dem Gebüsch und bewegte sich in meiner Haltung, die Füße gleichzeitig aufsetzend, die Arme im selben Rhythmus schwingend, neben mir her. Lief ich los, lief auch er; blieb ich stehen, stoppte auch er; zuckte ich mit den Wimpern, zuckte auch er. Dabei schaute er mir nie in die Augen, musterte diese nur, so wie auch die übrigen Körperteile, um jede Bewegung möglichst schon im Ansatz zu erkennen und zu wiederholen. Oft versuchte ich ihn über meinen nächsten Schritt zu täuschen, deutete eine falsche Richtung an, rannte weg aus dem Stand. Doch er ließ sich nie überlisten. Auf diese Weise ahmte er mich weniger nach, als daß er mich beschattete, und ich war der Gefangene meines Schattens.  - Peter Handke, Die Wiederholung. Frankfurt am Main 1992 (zuerst 1986)
 
 

Feind Kindheit

 

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