indheit  Der Geist, der in den Surrealismus eintaucht, erlebt mit höchster Begeisterung den besten Teil seiner Kindheit wieder. Das gibt ihm etwas von der Gewißheit, die man hat, wenn man ertrinkt und in weniger als einer Minute alles Unüberwindbare seines Lebens an sich vorüberziehen läßt. Nicht sehr ermutigend, wird man einwenden. Aber es liegt mir nichts daran, diejenigen, die mir das sagen, zu ermutigen.

Von den Kindheits- und einigen anderen Erinnerungen geht ein Gefühl der völligen Ungebundenheit aus und in der Folge das Gefühl, abgeirrt zu sein, das ich für das fruchtbarste von allen halte. Die Kindheit nähert uns vielleicht am meisten dem «wahren Leben»: die Kindheit, außer der, abgesehen von  seinem Passierschein, der Mensch über nichts verfügt, als über einige Freikarten; die Kindheit, wo alles dennoch zum wirksamen Besitz — und ohne Wagnis — seiner selbst beitrug.

Durch den Surrealismus scheinen diese Möglichkeiten wieder gegeben. Als liefe man seinem Heil entgegen oder seinem Untergang. Im Dunkel erlebt män von neuem einen kostbaren Schrecken. Gott sei Dank, es ist nur erst das Fegefeuer. Bebend durchschreitet man, was die Okkultisten gefährliche Landschaften nennen. Auf meinem Pfad erwecke ich Monstren, die mir auflauern; noch wollen sie mir nichts allzu Böses, und ich bin nicht verloren, da ich sie fürchte. Da sind «die Elefanten mit Frauenkopf und die fliegenden Löwen», denen Soupault und ich einst zu begegnen fürchteten, da ist der «auflösbare Fisch», der mir immer noch ein wenig Angst macht. POIS5ON SOLUBLE, bin nicht ich es, der auflösbare Fisch, im Zeichen der Fische bin ich geboren, und der Mensch ist auflösbar in seinem Denken! Die surrealistische Fauna und Flora sind unsagbar. - André Breton, Erstes Manifest des Surrealismus (1924)

Kindheit (2)  Nichts ist angenehmer und seltsamer, als über diese ersten Entzückungen nachzudenken. Sie gehören der harmonischen Welt einer vollkommenen Kindheit an und leben darum mit einer natürlichen Anschaulichkeit im Gedächtnis, die sich fast mühelos wiedergeben läßt; erst mit den Erinnerungen an die Jahre des Heranwachsens wird Mnemosyne wählerisch und verdrossen. Außerdem möchte ich die Behauptung unterbreiten, daß russische Kinder meiner Generation in der Fähigkeit, Eindrücke zu horten, eine Periode der Genialität durchmachten, so, als versuchte ein wohlgesonnenes Schicksal angesichts des kataklysmischen Umsturzes, der die ihnen bekannte Welt vollständig auslöschen sollte, für sie soviel wie nur möglich zu tun und ihnen mehr zu schenken, als ihnen eigentlich zustand. Die genialen Fähigkeiten schwanden, als alles verwahrt war, genau wie bei jenen anderen, spezialisierteren Wunderkindern - hübschen, lockenköpfigen Knirpsen, die Taktstöcke schwingen oder gewaltige Klaviere zähmen und am Ende zu zweitklassigen Musikern mit traurigen Augen, obskuren Leiden und irgendwie unförmigen eunuchoiden Hinterpartien werden. Aber wie dem auch sei, das individuelle Geheimnis bleibt und irritiert den Memoirenschreiber. Weder in meiner Umwelt noch in meinem Erbe vermag ich mit Sicherheit das Werkzeug zu sehen, das mich formte, jene anonyme Walze, die meinem Leben ein bestimmtes kunstvolles Wasserzeichen aufdrückte, dessen einzigartiges Muster zum Vorschein kommt, wenn man das Schreibpapier des Lebens mit der Lampe der Kunst durchleuchtet. - (nab)

Kindheit (3)  So viele Leute haben mich gehalten, so viele Hände haben mich befummelt. Aber nie hat sich ein menschliches Gesicht über meine Wiege gebeugt; ein Hintern vielleicht! Ja, das ist so. Ich sehe mich noch, als war es gestern: Ich war drei Jahre alt. Ich trug ein rosa Kleidchen. Ich war immer allein. Ich war übrigens sehr gern allein. Ich spielte am liebsten in den dunklen, duftenden Winkeln, unter dem Tisch, in den Schränken, unter den Betten. Als ich vier war, steckte ich den Teppich in Brand. Der ranzige Gestank der verkohlten Wolle versetzte mich in Krämpfe, in Raserei. Ich fraß Zitronen mit der Schale, ich lutschte an Lederfetzen. Der Staubgeruch von alten Büchern verdrehte mir den Kopf, berauschte mich. - (mora)

Kindheit (4)  Selten erwachen die Theoretiker aus schrecklichen Träumen, in denen sie durch verglaste Flure hochmoderner Kliniken irren und Rolltreppen in Gegenrichtung benutzen. Wie durch Zauberhand in die Kindheit zurückversetzt, zwängen sie den kleinen Kopf aus einem Kellerloch durch ein Gitter in die Freiheit und sehen viel zu spät das verzerrte Gesicht der Mutter, die mit einem Holzhammer in ihre Richtung ausholt. Ein seltsames Durcheinander entsteht in dem Hotel, und irgendjemand muss die Nachricht von einem vermissten Kind überbringen.   - (raf)

Jugend
Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe
Mummerehlen  Mythos Kinderspiel
Verwandte Begriffe
Synonyme