Dabichtflug    Und so stand es geschrieben: »Springe ohne Schwung, ruhig und gerade, der Abstand zwischen dir und der Wand betrage zwei Fuß, nicht mehr und nicht weniger. Halte den Körper in ideal senkrechter Linie. Zähle bis fünf, dann stoße dich heftig mit den Füßen von der Wand ab, drehe einmal in der Luft und lande, nicht ohne den Namen des heiligen Buddha Amida rezitiert zu haben.«

Es hieß, die alten Meister hätten den Habichtflug von einhundert Shaku [30,3 cm] hohen Mauern vollzogen.   - Boris Akunin, Der Tote im Salonwagen. Berlin 2004

Habichtflug (2)  Darauf achtgebend, nur ja keinen Schwung zu nehmen, straffte Fandorin seinen Körper und tat den Schritt ins Leere.

Das Gefühl zu fliegen fand Fandorin abscheulich. Der Magen unternahm den Versuch, zur Kehle herauszuspringen, während die Lungen sich totstellten, weder ein- noch auszuatmen imstande waren. Doch all dies spielte keine Rolle. Hauptsache: zählen.

Bei fünf winkelte Fandorin die Beine an, stieß die Füße mit aller Kraft nach hinten und spürte an den Sohlen den sengenden Kontakt mit der harten Oberfläche, ehe er die nicht sehr schwierige Figur »Angreifender Drache« vollführte, die der europäische Zirkus unter der Bezeichnung Doppelsalto kennt.

Namu Amida Butsu* , schaffte er es noch zu denken, dann sah und hörte er gar nichts mehr.

Die Sinne kehrten wieder - wenn auch nicht alle. Er fror entsetzlich, bekam keine Luft, und zu sehen war immer noch nichts. Im ersten Moment meinte Fandorin voller Grausen, seiner letzten Rezitation wegen in jener Eishölle gelandet zu sein, wo dem Buddhismus zufolge allzeit Kälte und Finsternis herrschen. Allerdings wurde dort gewiß nicht russisch gesprochen - die dumpfen Stimmen aber, die von irgendwo himmelwärts zu ihm drangen, taten es.

»Wo ist er denn? Siehst du ihn, Schwarz? Wie vom Erdboden verschluckt!«

»Da vorne!« rief eine andere Stimme, jung und hell. »In der Schneewehe. Mensch, ist der weit geflogen!«

Und erst da verstand Fandorin in seiner Benommenheit, daß er weder tot noch blind war. Sondern tatsächlich bäuchlings in einer tiefen Wehe lag, Augen, Mund und Nase voll Schnee - womit erklärt war, warum er nichts sah und nicht atmen konnte.

»Hauen wir ab«, erklang es von oben. »Der hat ausgehaucht. Oder jedenfalls sämtliche Knochen gebrochen.«

Worauf der Himmel verstummte.

Sämtliche jedenfalls nicht! entschied der Staatsrat, nachdem es ihm gelungen war, auf alle viere zu kommen und schließlich gar auf die Füße.

Vielleicht hatte ihm die Kunst der Ninjas das Leben gerettet, vielleicht auch die Anrufung des Buddha Amida. Am wahrscheinlichsten aber doch der zufällige Schneehaufen. - Boris Akunin, Der Tote im Salonwagen. Berlin 2004

* Ich nehme meine Zuflucht zum Buddha Amida

Fliegen

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