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Während wir - wie beim Blindekuh-Spiel mit verbundenen Augen - uns
noch immer unseren Weg durch die Mäander der Theorie ertasteten, zehrten die
alltäglichen Unterhaltungen mit meinem Bruder eine Weile von den Erzählungen
über das Tun und Treiben, das einer von ihm erfundenen Gestalt angedichtet wurde:
eines kleinen Mädchens, ich glaube namens Marcelle, das sehr gewitzt war und
sich gewöhnlich damit vergnügte, in Gegenwart von Jungen zu pissen
oder ihnen seine Schlitzhose vorzuführen (oder seinen Hintern, denn oft lief
es herum mit nacktem Geschlecht und Hinterbacken unter dem Rock). Die Geschichten
über Marcelle - von der wir wie von einer wirklichen Person sprachen und als
hätten wir sie gekannt - spielten gewissermaßen die Rolle einer Parole zwischen
uns beiden. In jener Zeit hatten weder mein Bruder noch ich das Geschlecht eines
geschlechtsreifen oder in die Pubertät kommenden Mädchens, auch nicht das einer
jungen Frau oder Frau zu Gesicht bekommen. Wir nahmen die Marcelle unterschobenen
Streiche mit aus Bewunderung und Sympathie gemischter Belustigung auf, aber
ich hätte nie zu behaupten gewagt, daß wir eine Göre ihres Schlags gern in unserem
Bekanntenkreis gesehen hätten (mit der das Erlernen so mancher Dinge allerdings
rasch von der Hand gegangen wäre!). - Michel Leiris, Die Spielregel 2. Krempel. München 1985 (zuerst
1955)
Gören (2)
- N. N.
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