Bevölkerungsstatistik  Wünscht man  die Bevölkerungsziffer von einer der größeren Encantadas, Albemarle, zu erfahren, so will ich in runden Zahlen die Statistik entsprechend den an Ort und Stelle gemachten Schätzungen wiedergeben:
 

Menschen
Ameisenbären
Menschenfeinde
Eidechsen 
Schlangen
Spinnen
Salamander
Teufel

Das ergibt eine Gesamtzahl von

 keine
unbekannt
unbekannt
500 000
500 000
10 000 000
 unbekannt
 unbekannt

11 000 000 

  - Herman Melville, Die Encantadas. In: H. M., Redburn. Israel Potter. Sämtliche Erzählungen. München 1967  (zuerst 1854)

Bevölkerungsstatistik (2)  Bereinigt von Zahlentabellen, Formeln und Graphiken teilte die Eurostat etwas mit, das Martin so verblüffte, dass er das Papier drei Mal las und dann noch eine Stunde ungläubig anstarrte. Was der Referent der Eurostat schrieb, bedeutete im Grunde, dass das Individuum bei allen statistikbasierten Hochrechnungen ein Störfaktor sei, dachte Martin. Man könnte die Auskunft auch so lesen: Gott mit seinem unerforschbaren Willen macht alle verfügbaren statistischen Daten über Menschen letztlich zu Makulatur.

Man wisse, wie viele neunzigjährige Frauen und Männer heute in Europa leben. Und man wisse, dass sich die Schere in der Lebenserwartung zwischen Frauen und Männern mit zunehmendem Alter schließt. Neunzigjährige Frauen hätten heute im statistischen Durchschnitt noch vier Jahre, Männer noch dreidreiviertel Jahre Lebenserwartung. Die Zahl der Shoa-Überlebenden im Jahr 1945 könne nur geschätzt werden. Über das Verhältnis von Männern und Frauen gäbe es gar keine Angaben. Aber wenn man nun davon ausgehe, dass sich die unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen mit zunehmendem Alter ohnehin angleicht, und eine Hochrechnung der Lebenserwartung der Shoa-Überlebenden ohne Differenzierung nach Geschlecht vornehme, um herauszufinden, wie viele aller Wahrscheinlichkeit nach heute noch leben, so scheitere dieser Versuch daran, dass die Lebenserwartung in verschiedenen Ländern unterschiedlich hoch ist und man die Verteilung der Überlebenden auf diese Länder nicht kennt. Es mache einen Unterschied, ob es sich um einen Shoa-Überlebenden in Deutschland, in Polen, in Russland, in Israel oder in den USA handelt. Und dann müsste noch berücksichtigt werden, ob jemand begütert ist oder unterhalb der Armutsgrenze lebt. Es gebe die Schätzung eines israelischen Demographen aus dem Jahr 2005, siehe Anmerkung, dass 40 Prozent der Shoa-Überlebenden an oder unterhalb der Armutsgrenze leben. Diese Menschen hätten zweifellos die schlechtesten Karten, und man sei verfuhrt anzunehmen, dass von diesen mittlerweile niemand mehr am Leben ist, was aber nicht belegt werden könne, weil eine andere Statistik dagegen spricht: Menschen, die in ihrer Jugend längere Hungerperioden erlebt haben, hätten eine höhere Lehenserwartung und könnten sich auch im Alter auf Mangel physisch besser einstellen als jene, die nie diesen physiologischen Anpassungsdruck erlebt haben. Nun sei aber bekannt, dass nicht nur Shoa-Überlebende, sondern auch große Teile der Zivilbevölkerung in den vom Krieg betroffenen oder in den besetzten Gebieten unter epidemischem Hunger gelitten hätten, weshalb es keine Formel gebe, mit der man die Lebenserwartung und die wahrscheinliche Zahl der heute noch lebenden Shoa-Überlebenden exklusiv herausrechnen könnte. Und nun kam der Referent der Eurostat auf die eingangs erwähnte Lebenserwartung der heute Neunzigjährigen zurück.

Er schrieb: »Wenn wir davon ausgehen, dass die jüngsten der gegenwärtig noch lebenden Shoa-Überlebenden im Jahr 1929 geboren wurden - denn sie mussten bei Einlieferung in ein KZ zumindest 16 Jahre alt sein, alle Jüngeren gingen sofort ins Gas -, dann wissen wir auf Grund der Lebenserwartungsstatistiken nur, dass es eine gewisse Anzahl von Überlebenden geben muss. Aber selbst wenn wir ihre genaue Zahl wüssten, könnten wir nicht sagen, ob die Statistik auf sie noch zutrifft, das heißt, ob sie dem statistischen Mittelwert entsprechen. Sie alle müssen über neunzig Jahre alt sein, haben also theoretisch noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von dreidreiviertel bis vier Jahren. Es ist aber möglich, dass schon in einem Jahr hundert Prozent der uns unbekannten Zahl verstorben oder aber hundert Prozent noch am Leben sind. Beides liegt innerhalb der Schwankungsbreite.« Und dann kam der Satz, der Martin nun vor den Augen tanzte, als stünde er in Großbuchstaben da: »DAS IST NICHT MEHR STATISTIK, DAS IST SCHICKSAL!«  - Robert Menasse, Die Hauptstadt. Berlin 2017

 

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