An der Liebhaberei für Schautiere ist der Vorzug auffällig, der zwei Arten zuteil wird, und zwar derartig, daß ihr Fehlen in einer Schausammlung — genannt Zoologischer Garten — diese nahezu entwertet. Jeder Zoo muß Elefanten und Löwen haben. In allem übrigen besteht Toleranz.
Dazu ist anzufügen, daß gerade diese beiden Tiere einander nichts tun, obwohl das eine sehr fleischeslustig, das andere sehr fleischhaltig ist. Dennoch kann man auch nicht sagen, sie lebten in Eintracht und Frieden miteinander und der Mensch lasse sich das gern vorstellen.
Wenn sie sich nichts tun, so nicht aus Zuneigung. Am ehesten ließe sich das so beschreiben: Sie interessieren sich nicht füreinander.
Das ist die solideste Grundlage fürs Überleben der einen mit den anderen.
Verglichen damit wäre jede Art von ›Liebe‹ gefährlich. Etwas zum Nachdenken
für die, denen es immer nicht genügen will, daß nur ›nichts passiert‹.
Sicherer als die Phrase, daß nichts passieren darf, ist die, daß nichts passieren
kann. Und die sicherste Bedingung dafür ist wiederum, wie es zwischen dem Elefanten
und dem Löwen steht: Der eine ist für den anderen abwesend. - Hans
Blumenberg, Löwen. Frankfurt am Main 2001
Überleben (2) Kitchell, Clark und Gombos (1986)
haben anhand von Kieselalgen (Diatomeen), einzelligen Pflanzen des ozeanischen
Planktons, ein interessantes Beispiel entwickelt.
Die Paläontologen haben sich lange darüber gewundert, warum die Diatomeen das
kreidezeitliche Sterben relativ unbeschadet überstanden, während die meisten
übrigen Teile des Planktons zugrunde gingen. Wachstum und Vermehrung der Kieselalgen
sind von der jahreszeitlichen Verfügbarkeit von Nährstoffen abhängig, die in
Auftriebszonen aus tieferen Gewässerschichten an die Oberfläche steigen. (Bei
diesem Gewässeraustausch kommt es zu der sogenannten »Diatomeenblüte«.) Sind
diese Nährstoffe erschöpft, dann können die Kieselalgen sich in eine »Ruhespore«
verwandeln, ihren Stoffwechsel praktisch einstellen und in tiefere Schichten
absinken. Wenn wieder Nährstoffe verfügbar sind, dann hört dieser Ruhezustand
auf. Den Erfolg der Diatomeen im Massensterben der Kreidezeit führen Kitchell
und ihre Kollegen auf eine Nebenwirkung des Ruhezustands zurück. Es ist offenkundig,
daß die Ruhesporen sich im Sinne einer Strategie entwickelten, um mit vorhersagbaren
und jahreszeitlichen Nährstoffschwankungen fertigzuwerden, und nicht, um für
Umweltkatastrophen gerüstet zu sein. Die Fähigkeit, sich in einen Schlafzustand
zu versetzen, könnte aber die Kieselalgen unter den anderen Regeln des Massenaussterbens
gerettet haben, besonders wenn sich herausstellen sollte, daß für den Vorgang
in der Kreidezeit das Modell des »nuklearen Winters« zutrifft; denn Dunkelheit
würde die Photosynthese unterbinden und in der ganzen Nahrungskette, die letztlich
auf der Primärproduktion beruht, den Tod nach sich ziehen. Die Kieselalgen könnten
dagegen das dunkle Gewitter als Ruhesporen unterhalb der Photozone überstehen.
-
(
go
)
Überleben (3) Ich bin wiedergekommen in der tiefsten
Verzweiflung. Ich habe niemals eine Mutter gehabt;
heute hat sich der Feind erklärt. Ich habe dir diese
Wunde nie enthüllt, sie war zu grausig, und man muß
es sehen, um es zu glauben. Sowie ich zur Welt gebracht war, bin ich einer Amme
übergeben worden, die eine Art von Gendarm war; und ich bin bis zum Alter von
vier Jahren dort geblieben. Von vier bis sechs Jahren war ich in Halbpension,
mit sechseinhalb Jahren wurde ich nach Vendôme geschickt, dort bin ich bis zu
vierzehn Jahren geblieben, 1813, in welcher Zeit ich meine Mutter nur zweimal
gesehen habe. Von vier bis sechs Jahren sah ich sie an den Sonntagen. Schließlich
hat eines Tages ein Dienstmädchen uns ins Unglück gestürzt, meine Schwester
Laura und mich. Als sie (die Mutter) mich dann zu sich nahm, hat sie mir das
Leben so hart gemacht, daß ich mit achtzehn Jahren, 1817, das Vaterhaus verließ
und mich in einem Speicher in der Rue Lesdiguières einrichtete, wo ich das Leben
führte, das ich in La Peau de Chagrin beschrieben habe. Ich bin also,
ich und Laurence, der Gegenstand ihres Hasses gewesen.
Sie hat Laurence getötet, aber ich lebe. - Balzac an Madame Hanska,
nach: Ernst Robert Curtius, Balzac. Bern 1951
Überleben (4) Lasse ihn seinen Urin
in ein Uringlas fahen, solchen schüttle und rüttle, daß er einen Gest bekomme.
Dann reime deine Ohren mit einem beinern Ohrlöffelgen,
daß das Löffelgen von dem Ohrenschmalz fein fett werde, und stoße solches Ohrlöffelgen
unter sich gekehrt in den Gest des Urins, bis auf den Urin. Wird nun der Gest
gar bald voneinander fallen und zergehen, so bleibt der Kranke selbigen Monats
beim Leben; so er sich aber nicht zerteilet und fest überende bleibt, so stirbt
er desselben Monats. Ist sehr viel und oft gewiß befunden worden. - (
zauber
)
Überleben (5) Die Genugtuung
des Überlebens, die eine Art von Lust ist, kann zu einer
gefährlichen und unersättlichen Leidenschaft werden. Sie wächst an ihren Gelegenheiten.
Je größer der Haufen der Toten ist, unter denen man lebend steht, je öfter man
solche Haufen erlebt, um so stärker und unabweislicher wird das Bedürfnis nach
ihm. Die Karrieren von Helden und Söldnern sprechen dafür,
daß eine Art von Süchtigkeit entsteht, der nicht mehr abzuhelfen ist. Die übliche
Erklärung, die dafür gegeben wird, lautet: daß solche Menschen nur noch in Gefahren
atmen können; alles gefahrlose Dasein sei ihnen trüb und schal; einem friedlichen
Leben könnten sie keinen Geschmack mehr abgewinnen. Es soll der Reiz der Gefahr
nicht unterschätzt werden. Aber man vergißt, daß diese Leute nicht allein auf
ihre Abenteuer ausgehen; daß andere mit ihnen sind, die der Gefahr erliegen.
Was sie wirklich brauchen, was sie nicht mehr entbehren können, ist die wieder
und wieder erneuerte Lust am Überleben.
- (
cane
)
Überleben (6) Als sie den Strauß anschaute und ihn reden hörte mit seinem österreichischen Tonfall, der ihr liebenswürdig im Ohr klang, dachte sie an das große Gedicht, das sie von ihm gelesen hatte, und wunderte sich, weil er kein hochgewachsener Mann mit kühn zerrissenem Gesicht war, wie sie sich ihn beim Lesen vorgestellt hatte. Statt dessen sah er so aus, wie einer, den man früher kultiviert oder verfeinert genannt hätte; und eigentlich paßte der auch nicht in diese Gegenwart.
Sie hörte ihn erzählen, wie die Juden (im Ghetto) ausgesucht worden waren,
um abtransportiert zu werden ins Lager Auschwitz, und wie er immer wieder von
der Gruppe derer weggegangen war, die in Lastwagen verladen werden sollten;
er hatte dabei vor sich hingeschaut und so getan, als ob er sich die Nägel reinige.
Deshalb war bei denen, die bleiben sollten, immer einer zuviel gewesen, doch
hatte der SS-Mann schließlich die Suche nach dem Überzähligen aufgegeben. So
war er, der nun in Paris als Deutschlehrer lebte, durchgekommen.
Wie alles zusammenhing, und warum dieser Mann durchgekommen war und jener nicht
... (da kannst du in Gedanken nicht einmal den Satz zu Ende führen). Und sie
erinnerte sich wieder jener beiden Schwestern ihrer Mutter, die abtransportiert
und im Osten verschollen waren, weil man sie ermordet hatte. Dabei schien's
ihr, als ob sie selbst auch daran schuldig wäre. -
Hermann Lenz, Ein Fremdling. Frankfurt am Main 1988 (st 1491, zuerst 1983)
Überleben (7) Mary ist bereits vor mindestens 10 Tagen
von zwei Schwestern, zwei Ärzten & einem Haufen anderer aufgegeben worden,
aber sie atmet noch - liegt zum ersten Mal auf der linken Seite und lebt von
Sauerstoff. Es sieht so aus, als würde ich in den letzten Stunden mit ihr allein
gelassen - Hatch kommt heute zurück & Harry scheint nervös zu sein. Der
letzte Arzt meinte, das könnte ich nicht. Zusehen wie sie noch lebt - Sie schläft
mit offenen Augen & muß um jeden Atemzug ringen & kann das geronnene
Blut nicht mehr aushusten und auch ihr Gedärm bewegt sich nicht & sie hat
seit 5 Tagen nicht mehr als ein halbes Glas Milch täglich zu sich genommen -
Sie deliriert, weiß aber, daß es Delirium ist, während sie es durchmacht, &
sie leidet sehr - & gestern hat sie mich fast umgebracht, als sie versuchte,
ihre Arme um mich zu schlingen, & sagte | »Du siehst, was mit mir los ist«
& dann »Kannst du mir nicht helfen?« Das Schlimmste ist, daß sie ihren eigenen
Tod so lange überlebt hat. - Djuna Barnes an Courtenay Lemon. In: D.B.,
Hinter dem Herzen. Berlin 1994
Überleben (8) Man sieht in ein Zimmer hinein und
sagt: Er schläft noch. Eine Stunde später sieht man noch einmal hin und fühlt,
er wird schlafen bleiben. Er ist schon langsam im Erkalten - und er wird auf
keine Frage mehr antworten. Das ist wohl alles. Von hier an hat der Überlebende
nur mit sich selbst zu tun. -
Ernst Fuhrmann, Der Sinn des Todes. Nach (
fuhr
)
Überleben (9) Wir lesen bei Saxo Grammaticus, daß ein gewisser Asuit und Asmund sich gegenseitig durch einen Eid verpflichtet haben, daß wer von ihnen den andern überlebe, sich mit dem zuerst Sterbenden begraben lassen müsse. Als nun Asuit von einer Krankheit hingerafft wurde, setzte man ihn mit seinem Hunde und seinem Pferde in einer großen Gruft bei, und auch Asmund ließ sich wegen seines Freundschaftsbündnisses lebendig mit ihm begraben, nahm aber so viel Speise mit sich, um lange Zeit davon leben zu können. Als nachher der schwedische König Erich, auf einem Heereszuge durch jene Gegend, Asuit's Grab, wo er einen Schatz vermutete, öffnen ließ, brachte man den Asmund wieder ans Tageslicht hervor, aber mit schauerlich entstelltem, leichenartigem Gesichte und mit aus einer frischen Narbe fließendem Blute bedeckt, denn Asuit war nachts wieder lebendig geworden und hatte in häufigem Ringen ihm das linke Ohr abgerissen. Die Ursache seiner Wunde erzählte nämlich Asmund selbst auf Befehl des Königs in folgenden Versen:
Was staunet ihr, daß ihr so bleich mich seht?
Der
Lebende verkommt wohl unter Toten.
Ich weiß nicht, welche Macht es zugelassen,
Daß
Asuits Geist der unterweit entstieg,
Mit gierigen Zähnen erst sein Roß verzehrte,
Dann seinen Hund zum ekeln Mahl sich nahm.
Doch nicht zufrieden mit
dem Pferd und Hunde;
Reckt bald nach mir er seine Krallen aus.
Zerfleischt
mir meine Wange, reißt ein Ohr
Hinweg, drum bin so gräßlich ich entstellt,
Und in der offnen Wunde quillt noch Blut!
Allein nicht straflos blieb
das Ungeheuer,
Denn seinen Kopf schlug mit dem Schwert ich ab,
Mit einem
Pfahl durchbohrt ich seinen Körper.
- (nett)
Überleben (10) Muhammad Tughlak, der Sultan
von Delhi, hatte verschiedene Pläne, die jene Alexanders
oder Napoleons an Großartigkeit übertrafen: darunter
war auch die Eroberung von China durch Überquerung des Himalaja. Eine Reiterarmee
von 100 000 Mann wurde aufgestellt. Im Jahre 1337 zog diese Armee aus: sie ging
im Hochgebirge grausam zugrunde. Zehn Mann davon, nicht mehr, gelang es, sich
zu retten. Sie brachten die Nachricht vom Untergang aller anderen nach Delhi
zurück. Diese zehn Mann wurden auf Befehl des Sultans hingerichtet.
- (
cane
)
Überleben (11) Ungeklärt ist, wieso nur bestimmte Tiergruppen aussterben und andere nicht. So starben z. B. am Ende der Kreide die Dinosaurier, Flugsaurier, Plesiosaurier und Fischsaurier aus, während alle anderen Wirbeltiergruppen
(Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säuger) überlebten. Nimmt man
wirklich eine Verdunkelung des Planeten und die fast vollständige
Einstellung der Photosynthese an, sollten alle Tierarten davon gleich
betroffen sein. Auch das Überleben blütenbestäubender Insekten kann nur
schwer erklärt werden. -
Wikipedia
Überleben (12)
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