Bettlergasse  Um zwölf Uhr strömen die Mannschaften von Hunderten von Schiffen aus den Docktoren zu ihrem Mittagstisch in die Stadt. Diese Stunde nehmen zahlreiche Bettler wahr, um sich an der Außenseite der Mauern aufzustellen, während andere am Rinnstein stehen, um die Mildtätigkeit der Matrosen zu wecken. Als ich zum erstenmal durch diese lange Armutsgasse ging, kam es mich schwer an, zu glauben, daß eine einzige Stadt in der Welt ein solches Aufgebot an Elend zuwege brachte.

Jede Abart von Not und Leid bot sich hier dem Auge, und jedes Laster zeigte hier seine Opfer. Ebenso fehlte es nicht an den erstaunlichsten und fast unglaublichen Verstellungen und Praktiken der berufsmäßigen Bettler, um dieses Bild all dessen zu vollenden, was der Zivilisation und Menschlichkeit zur Schande gereicht.

Alte, durch langsames Hungern und ihre Jahre zu Mumien vertrocknete Weiber, junge, unheilbar kranke Mädchen, die in ein Spital gehörten, kräftige Männer, denen der Galgen aus den Augen sprach und eine jammernde Lüge auf den Lippen lag, Jungen, hohläugig und verkommen, schwächliche Mütter, die schwächliche Säuglinge in das Licht der Sonne hielten, waren die wichtigsten Darsteller in diesem Schauspiel.

Aber sie unterschieden sich untereinander wieder durch Beispiele besonderen Leidens und Lasters oder durch die Geschicklichkeit, die Mildtätigkeit auf sich zu ziehen, die wenigstens mir, der ich nie zuvor Derartiges gesehen hatte, in höchstem Maße als ungewöhnlich und ungeheuerlich vorkam.

Ich entsinne mich eines Krüppels, der verhältnismäßig anständig gekleidet war. Er hockte an der Mauer und hielt ein bemaltes Brett auf den Knien. Es war ein Bild, das den Mann darstellte, wie er von der Maschinerie einer Fabrik erfaßt und mit verstümmelten und blutenden Gliedmaßen zwischen den Spindeln und Zahnrädern herumgeschleudert wurde. Dieser Mensch sagte nichts, sondern saß schweigend da und wies sein Brett vor. Neben ihm stand aufrecht, gegen die Mauer gelehnt, ein großer, bleicher Mann mit weiß verbundener Stirn und leichenhaft bleichem Gesicht. Auch er sagte nichts, sondern wies mit einem Finger schweigend auf die Fliesen zu seinen Füßen, die sauber abgewaschen und blau gefärbt waren und auf denen mit Kreide geschrieben stand:

Habe seit drei Tagen nichts gegessen. Meine Frau und Kinder sterben.

Etwas weiter lag ein Mann, der einen Ärmel seines Rocks aufgeschlagen hatte und eine nicht anzusehende Wunde vorzeigte. Darüber hielt er ein Stück Pappe mit einer Inschrift.

An anderen Stellen war auf eine Entfernung von vielen Schritten die ganze Strecke der Bodenfliesen am Fuß der Mauer entlang völlig bedeckt mit Inschriften, und die Bettler standen schweigend dabei.

Aber während man an diesen schrecklichen Berichten vorüberging, die innerhalb einer Stunde von den Füßen Tausender Vorübergehender ausgelöscht waren, blieb man nicht unbehelligt von den lauten Anrufen dringender Mitleidsbeschwörungen. Sie belagerten einen auf jeder Seite, griffen einem nach dem Rock, hingen sich an einen, verfolgten einen und baten „um des Himmels willen", „in Gottes Namen" und um „Christi willen" um „einen halben Penny". Warf man einem von ihnen auch nur einen Blick zu, und sei es nur für eine Sekunde, so wurde es wie ein Blitz bemerkt, und der Betreffende wich einem nicht von der Seite, bis man in eine andere Straße einbog oder seiner Bitte nachkam.   - Herman Melville, Redburn. Seine erste Reise. In: H. M., Redburn. Israel Potter. Sämtliche Erzählungen. München 1967 (zuerst 1849)

 

Bettler Gasse

 

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