Uebernatur    Diejenigen, welche die substantielle Nacht als unnatürlich bezeichnen, sind gezwungen, sie als unnatürlich aus Überlegenheit zu definieren, als etwas, das über jeder anderen irdischen Materie und Form steht. Es fehlt nicht an solchen, die sehen, daß diese höhere Unnatürlichkeit zu den unzuverlässigen Umschweifen einer unwissenschaftlichen, sogar mystizistischen und irreredenden Schwärmerei führt. Aber daß die Nacht nichts Vernünftiges ist, haben wir schon erkannt und zugegeben.

Diejenigen, welche die Nacht als Übernatur deuten, gehören selbstverständlich zu den Überresten einer Gesellschaft des Kults, der Magie, der Theologie, die in unserer heutigen Gesellschaftsordnung nur mehr eine periphere, wenn auch nicht belanglose Rolle spielt. Sie sagen ungefähr folgendes: Wenn sich die Nacht nicht als Natur erklären läßt und auf jeden Fall etwas durchaus Anderes ist als alles, was für uns Natur heißt; wenn es andererseits nicht logisch erscheint zu behaupten, die Natur sei in der Lage oder geneigt, etwas Unnatürliches hervorzubringen, und es außerdem nicht unmöglich ist, die Nacht bei den Mißbildungen und Krankheiten unterzubringen, die doch der Natur nicht zuwiderlaufen, dann bleibt nur noch die Annahme, die Nacht sei etwas Übernatürliches, lückenhaft sowohl auf natürliche wie auf unnatürliche Weise. Nach ihrer Auffassung sucht die Welt, unfähig, sich allein zu erklären, nach den Zeichen einer weiteren Erklärung, nach einem Zeichen, das als Garantie dafür gelten könnte, daß irgendwo die Bedeutung der Welt unter Schutz steht und daß die Welt, eben weil als natürlicher Gegenstand sinnlos, um sinnvoll zu werden, mit einer Nicht-Natur zusammenhängen muß, die sie wegen ihrer bestätigenden Funktion eine Übernatur nennen. Aber die Übereinstimmung unter denen, die an diese nicht nachprüfbare Übernatur glauben, geht nicht weit über diese globale Aufstellung von Grundsätzen hinaus. Wenn man nämlich diese Übernatur akzeptiert, muß man auf die einfachere, aber unheimlichere Frage antworten: Ist diese substantielle Nacht - weder natürlich noch unnatürlich - eine negative oder eine positive Anwesenheit?

Wir haben schon gesagt, daß ihre Anwesenheit zweifach sein kann, aber dann käme es kaum darauf an, ob man sie natürlich nennt oder mehr als natürlich, denn sie wäre ein zweifaches Zeichen und somit widersprüchlich. Manche sagen: »Nach unserer Meinung ist sie etwas Rätselhaftes und Unheimliches, aber sie stellt die Rückgabe des Rätsels dar. Als Rätsel ist sie nicht lösbar, aber ihre fortwährende Gegenwart verändert die Welt und macht sie zugleich zum Ort der Angst und zürn Sitz des Zeichens; aber über das Zeichen können wir nichts aussagen, als daß es ohne das Zeichen keine Angst gäbe, aber ohne Angst würde sich die Welt, dem zerbrechlichen Panzer der Natürlichkeit zurückgegeben, sofort auflösen. Die Angst und das Rätsel halten also diese kurze Welt und ihr Dunkel fest in ihren Händen, deren graphische Handflächen wir nicht sehen.«

Und von dem Wort Dunkel ausgehend, sagen manche, daß die substantielle Dunkelheit nicht die der Nacht ist, sondern eben unsere Dunkelheit, in der ein Spielzeug aus Sonnenlicht, ein Puder aus hellichtem Tag und ein Beruhigungsmittel aus Träumen den Anschein eines ununterbrochenen, beharrlichen und nicht sinnlosen Lebens erwecken. Dann wäre die Nacht der Übernatur nicht nur das bedeutende Zeichen, sondern auch eine himmlische Allegorie, deren Bedeutung wäre: »Ihr Sonnen-, Mond- und Sternenwesen, ihr Bewohner des Tages und der kurzlebigen Nacht, ihr seid ja die Nächtlichen, und ich, die unveränderliche und ewige Nacht, das Ärgernis der Welt, ich bin die negative Form des höheren Lichts, denn nur so könnt ihr mich in eurer verkehrten und unsinnigen Welt erreichen und erleben. Auf keine andere Weise konnte euch die Bedeutung mitgeteilt werden denn als Rätsel und der Tag nur als Nacht.«

Trotzdem bemerken einige, daß besagte Nacht zweideutige Eigenschaften hat und Wesen beherbergt, die als die unglücklichsten und erbarmungswürdigsten erscheinen, und sie von einer Art inneren Gleichgültigkeit regiert wird, die als ein Ärgernis erscheint bei der physischen oder symbolischen Größe, die sie nach außen hin zeigt. Und da stellte man sich etwas Subtileres vor: eine Spur von Unübernatürlichem sozusagen; in der Welt der Übernatur gibt es einen Raum für das Kranke, das Entgleiste, den Irrtum. Der Irrtum bleibt trotzdem Übernatur, aber in der negativen Form, er ist die Unvollkomrnenheit des Vollkommenen, das Stottern bei der Erklärung der Welt.    - Giorgio Manganelli, Kometinnen und andere Abschweifungen. Berlin 1997

Natur

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB

 

Synonyme