Sich zu Tode hungern   «Er denkt sich, daß ich hier schmolle, vielleicht, dass ich Komödie spiele. Können Sie ihm nicht beibringen, dass es schrecklicher Ernst ist? Nelly, ist es noch nicht zu spät, dann werde ich, sobald ich seine Gesinnung kenne, zwischen diesen beiden die Wahl treffen: entweder jetzt zu sterben - das wäre keine Strafe für ihn, er hätte denn ein Herz - oder zu gesunden und die Gegend zu verlassen. Sagen Sie mir jetzt die Wahrheit über ihn! Passen Sie auf. Ist ihm mein Leben wirklich so völlig gleichgültig?»

«Die Wahrheit zu sagen, Madame, der Herr hat von Ihrem veränderten Zustand keine Ahnung; und sicherlich denkt er nicht daran, dass Sie sich dem Hungertod überliefern könnten.»

«Glauben Sie nicht? Können Sie ihm nicht sagen, dass ich es tun werde? Überzeugen Sie ihn davon! Teilen Sie ihm Ihre eigene Ansicht mit: sagen Sie ihm, es sei für Sie eine Gewiss-heit,dass ich es tue!»

«Nein. Sie vergessen, Mrs. Linton, dass Sie heute abend mit Lust etwas Nahrung zu sich genommen haben, und morgen werden Sie die gute Wirkung verspüren.»

«Wäre ich nur gewiss, dass ihn das umbringen würde», unterbrach sie mich, «ich tötete mich auf der Stelle! Diese drei furchtbaren Nächte habe ich meine Lider nicht geschlossen... und, oh! ich bin gequält worden, Nelly! Ich war besessen! Doch ich fange an zu glauben, Sie lieben mich nicht. Wie seltsam! Ich dachte mir: obgleich jeder den ändern hasst und verachtet, so könnten Sie doch nicht umhin, mich zu Heben. Und in wenigen Stunden sind sie alle zu meinen Feinden geworden; sie sind es ganz gewiss, die Leute hier. Wie traurig,

den Tod vor sich zu sehen und um sich ihre eisigen Gesichter! Isabella, niedergeschlagen und voller Abscheu und Furcht, das Zimmer zu betreten: es wäre so grässlich, Catherine sterben zu sehen! Und Edgar,feierlich und aufrecht an meiner Seite, um mein Ende festzustellen und dann Gottesdienst und Gebete verrichten zu lassen, zum Dank für den in seinem Heim wiederhergestellten Frieden, und darauf zu seinen Büchern zurückzukehren! Im Namen alles dessen, was eine Seele hat, was gibt er sich mit Büchern ab, wo ich am Sterben bin?»

Sie vermochte den Gedanken von Mr. Lintons philosophischer Ergebung, den ich ihr in den Kopf gesetzt hatte, nicht zu ertragen. Sie warf sich herum und steigerte ihre fieberhafte Überreizung bis zur Raserei, derart, dass sie mit den Zähnen ihre- Kissen zu zerreissen begann; dann richtete sie sich ganz glühend auf und wollte, dass ich das Fenster öffne. Wir waren mitten im Winter: der Wind blies mit Macht aus Nordwesten; ich weigerte mich. Der wechselnde Ausdruck ihres Gesichtes und das umschlagen ihrer Stimmung begannen mich aufs höchste zu beunruhigen und riefen mir ihre frühere Krankheit zurück und des Arztes Mahnung, ihr nicht zu widersprechen. Vor einer Minute war sie in heftiger Bewegung gewesen; jetzt, auf einen Arm gestützt und meine Weigerung offenbar nicht beachtend, schien es ihr ein kindisches Vergnügen zu bereiten, aus den Rissen, die sie in ihre Kissen gemacht, die Federn herauszureissen und sie nach ihren verschiedenen Arten auf dem Bettuch hinzuordnen: ihr Denken hatte eine andere Richtung angenommen.

«Das hier ist eine vom Truthahn», murmelte sie, mit sich selber redend, «und diese von der Wildente, und die von der Taube. Ach! Sie stopfen Taubenfedern in die Kissen... kein Wunder, dass ich nicht sterben konnte! Ich muss sie sorgfältig zu Boden werfen, wenn ich mich wieder hinlege! Und das ist eine vom Auerhahn; und diese hier - die wollte ich unter tausend erkennen -, die stammt vom Kiebitz. Ein hübscher Vogel; kreist in der Heide über unsern Köpfen. Wollte sein Nest erreichen; denn die Wolken waren heraufgestiegen, und er fühlte den Regen nahen. Diese Feder war auf der Heide aufgelesen worden; der Vogel wurde nicht geschossen. Wir haben im Winter sein Nest gefunden; es war voll kleiner Gerippe. Heathcliff legte eine Schlinge, und da wagten die Alten nicht wiederzukommen. Heathcliff musste mir versprechen, inskünftig nie mehr einen Kiebitz zu töten, und er hielt Wort. Doch da sind noch andere: Hat er meine Kiebitze getötet, Nelly? Sind rote darunter? Lassen Sie mich sehen.»

«Lassen Sie jetzt dieses Kinderspiel!» rief ich. Ich zog ihr das Kissen weg und kehrte es um, mit den Löchern zur Matratze; denn sie war daran, seinen Inhalt mit vollen Händen herauszuholen. «Legen Sie sich sofort hin und schliessen Sie die Augen: Sie phantasieren. Eine nette Bescherung! Da fliegen die Federn herum wie Schneeflocken.»

Ich suchte sie auf allen Seiten zusammen.

«Ich sehe in Ihnen, Nelly», begann sie träumerisch wieder zu reden, «eine ältliche Frau: Sie haben graues Haar und gebeugte Schultern. Dieses Bett ist die Feengrotte unter dem Peniston-Felsen; Sie heben in diesem Augenblick die Feenpfeile auf, um unsere Fersen zu treffen; und wenn ich Ihnen nahe bin, geben Sie vor, es seien nur Wollflocken. So werden Sie in fünfzig Jahren sein. Ich weiss, so sind Sie jetzt noch nicht; Sie irren sich, anders würde ich glauben, dass Sie wirklich diese dürre Hexe sind und denken, dass ich mich unter dem Peniston-Felsen befinde; doch ich weiss wohl, dass es Nacht ist und dass dort zwei Kerzen auf dem Tisch stehen, die den schwarzen Schrank wie Gagat glänzen lassen.»

«Den schwarzen Schrank? Wo ist denn der? Sie reden im Schlaf!»

«Er steht dort an der Wand, wo er immer steht. Er sieht seltsam aus; ich sehe darin ein Gesicht»

«Es gibt keinen Schrank in diesem Zimmer, und es stand nie einer da.» Ich setzte mich und hob den Bettvorhang, damit ich sie überwachen könne.

«Sehen Sie diese Gestalt denn nicht?» fragte sie, aufmerksam in den Spiegel blickend.

Ich hatte gut reden, es gelang mir nicht, ihr begreiflich zu machen, dass es die ihrige war. Endlich bedeckte ich den Spiegel mit einem Shawl.

«Sie ist dahinter immer noch da!» rief sie angstvoll. «Sie hat sich bewegt. Wer ist es? Ich hoffe, sie wird nicht heraustreten, wenn Sie fort sind! O Nelly! das Zimmer ist verhext! Ich fürchte mich, hier allein zu bleiben.»  - Emily Brontë, Sturmhöhe. Zürich 1973 (zuerst 1847)

Selbstmord Verhungern

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