Scheuen   Richard Eckemecker war auf der Straße spazieren gegangen, mit Scheuklappen wie gewöhnlich, seitlich der Augen, ohne sich viel zu denken. Da waren ihm plötzlich 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 Menschen begegnet, die ihm in einer und derselben Richtung entgegenkamen. Kaum hatte sie der scheue Richard gesehen, so war er scheu geworden und mit Geschrei durchgegangen, durch die Mitte der 1-10 Menschen hindurch, die nach allen Seiten auseinanderplatzten. Ein junges Mädchen hätte sich nicht mehr rechtzeitig retten können. Eckemecker hatte es niedergestreckt. [Unsinn Aujuste, heiraten mußte.] Nun waren die restlichen 9 stehen geblieben, und als sie ihn hatten davonlaufen sehen, war in ihnen das Viehlu erwacht. Die 9 Menschen waren ihm nachgelaufen, um ihm etwas zu tun. Nun kamen andere Menschen hinzu, Passanten und ein Polizist. Es begann eine wilde Jagd Richtung Eckemecker. Wie im Kino. Richard wußte sich nicht zu helfen. Da lief er durch eine Spiegelscheibe in ein Delikatessengeschäft. Dort warf er zunächst den Inhaber um, dann alles andere. Er warf den Fischkasten und den Marmeladenschrank um, er warf den Käsequark und die Kasse um, er warf den Wurstschrank und den Senftopf um, er warf den Zuckersack und die Schmierseife um. Der Inhaber, Herr Mayer, lag unten. Nun kam die Meute der Viehlus ihm nach. Während einige zu plündern begannen, und die Fische sprangen, während andere weiter demolierten, während andere den Inhaber, einen gewissen Herrn Mayer, verprügelten, während der Polizist vor Schreck Schreckschüsse abgab, entkam Richard Eckemecker unerkannt durch das Privatbüro und einen Gang auf eine andere Straße.

Da stand nun Richard Eckemecker schwitzend, schäumend und zitternd wie ein Pferd. Wie wenn ein edles Pferd durchgegangen war. Er nahm jetzt seine Scheuklappen ab, um sich die Stirn abzutrocknen. Plötzlich gewahrte er eine fürchterliche Erscheinung. Eine Frau in Hemdsärmeln, ohne Korsett, dagegen im Unterrock ohne Kleid, dagegen mit total verrutschten Strümpfen, mit einem hohen und einem niedrigen Absatz, die Haare aufgelöst im Winde flatternd, die Hände schüttelnd, wie zur Tat bereit, eine solche Frau kam mit Würde auf ihn zu, wie eine Autoritätsperson, laufend geraden Wegs. Der scheue Richard begann zu schluchzen.   - Kurt Schwitters, Auguste Bolte. Erzählung. Zürich 1966 (zuerst 1923)

Scheu

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