-Nase
Freilich konzentrierte sich der Blick aller Betrachter, die
diese Frau das erste Mal sahen, auf die flachgedrückte, S-förmige Nase, die
wie eine blecherne Gebäckform zwischen den infolge Müdigkeit oder Trauer stets
angestrengten Augen steckte. Wie sie zu dieser auffälligen Gesichtsmitte gekommen
war, blieb weitgehend unbekannt, auch, warum sie die Möglichkeiten der plastischen
Chirurgie nicht nutzte, um dem voyeuristischen, einmal mitleidigen, einmal höhnischen
Blick ihrer Umwelt zu entkommen. Etwa dem Verdacht, daß sie mittels dieser Entstellung
sich die Männer vom Leib halte. Oder daß sie den Zustand ihrer Nase einer kämpferischen Liaison verdanke, an die sich ständig zu erinnern ihre masochistische Ader sie
zwinge. Auch gab es obskure Spekulationen darüber, inwieweit ihre verunfallte
Nase ihre Karriere gefördert habe, da einige Neider behaupteten, gerade ihre
Nase habe Lilli Steinbeck den Geruch von Kompetenz verliehen. Daß sie diese
tatsächlich besaß, ignorierten sogar ihre engsten Mitarbeiter, die sich die
beachtlichen Erfolge der Abteilung fälschlicherweise selbst zuschrieben. Natürlich
litten die untergebenen Herren Qualen, daß eine Frau das Kommando innehatte,
die außer ihrer Nase so gar nichts von einem Mann besaß und die im Gegensatz
zu ihren fiktionalen Pendants weder eine Waffe noch ein hartes Wort zu bedienen
wußte, langsam und vorsichtig und selten mit dem Auto fuhr, keinen schwarzen
Gürtel besaß, überhaupt keinen Gürtel, Computer mied und gerne früh schlafen
ging. - Heinrich Steinfest, Tortengräber. MÜnchen 2010
|
||
|
|
|