Nachtgeschirr  »Arschloch! leer ihn aufs Bett!« sagte grob der Brigadier. Der Handlanger gehorchte. Bei der halben Drehung zeigte sich die sichtbare Hälfte seines Gesichtes gefleckt von scharf abgegrenzten Zonen, Inseln von Röte und Blässe: Bischofspurpur, Weichkäse. Auch verriet er, daß er in hohem Grad die Eigenheit aller Gutartigen, Großzügigen und Aufrichtigen besaß; die, bis an den Hals hinab zu erröten. Setzte dann, wie ihm geheißen, flink das umgestürzte Gefäß aufs Bett: mit den Händen, ringsum, eifrigst Einhalt gebietend. Von diesem Hort von Nüssen wären sonst, wenn nicht angehalftert, die dämlichsten davongesprungen mit unzähligen Hopsern und lustigem, blöden Gekoller, um sich hier und dort unter den Betten zu verschlüpfen: in einem Loch also und nicht in der Mulde des menschlichen Körpers, auf eben diesem Bett. Aber sie hatten sich verrechnet. Alle zusammen wurden sie wie in eine Schüssel deponiert, zum Haufen getürmt. Und oben drauf: eine Papiertüte. Aus blauem Papier, Krämerpapier. Zucker wahrscheinlich: eine geheime Reserve der Großmutter. Auf der anderen Seite des Bettes stehend, öffnete der Brigadier es selber mit ungeduldigem Gefingere, dieses Päckchen. Ein Säckchen kam zum Vorschein, aus grobem Leinen: gar nicht dickgeschwollen, aber doch beschwert und auf dem Grunde, wo es Ware barg, bollerig: Haselnüsse vielleicht? oder ein Häufchen Knöpfe; oder ein Rosenkranz?: abgebunden oben, unterhalb der Öffnung mit Spagat umwickelt, der verknotet und abermals verknotet war. Der Pestalozzi befühlte es. Sein Gesicht erhellte sich wie von der Morgenröte des NUN-IST'S-ERREICHT. Die Rüge, die er im Geist dem Jünger zugedacht, verpuffte. Eine halbe Lippe verzog sich ihm aufwärts, in einer verachtungsvollen Grimasse: wie um die Kennzeichen der Ironie, seiner Ironie zu unterstreichen. Das Durcheinander der vielen Knoten wurde von heftiger Nagelarbeit entwirrt: das Würgeband der Spagatwindungen lockerte sich und gab den Weg frei: aus dem gelösten Säckchen, seinerseits mit aller Geschicklichkeit umgekippt, aber aufs Bett der Großmutter, das mittlere, rutschten, als beglückwünschten sie sich gegenseitig zur unerwarteten Befreiung, grüne Kügelchen, Medaillons, Broschen und Karneole, Goldgehänge, Kettchen, Kreuzchen, Filigranhalsbänder, eins ins andere verhängt, und Hörnchen und Korallen; Ringe, besetzt mit seltenen Steinen oder gekrönt von einer Gemme, manche auch mit zweien verschiedener Farbe, kollerten vor dem offenen Maul des Dicken und unter dem Herzklopfen des Brigadiers hervor: der schon die Dienststreifen auf seine Ärmel klettern spürte, um die derzeitigen zu verdrängen. Maresciallo-Streifen diesmal. Dort auf dem. Bett verharrten sie, wie verängstigte Tierlein, wie Marienkäferchen, die die Flügel einholen, um nicht aufzufallen im armseligen Schoß des Elends: und lagen dort wie lauter aufgedeckte kleine Lügen, auf der Ladenbank vom geiernasigen Juwelier erkannt, nachdem sie gestohlen und wiedergefunden waren: in allen seltsamen Farben spielend und in allen Formen: ein Kreuzchen aus hartem Stein in stumpfem Grün, das zu befühlen, zu drehen und zu wenden die Fingerkuppen des künftigen Maresciallo sich nicht enthalten konnten: ein schönes Zylinderkegelchen aus glänzendem Schwarzgrün, geeignet, um sich daraus von ägyptischen Priestergaunern Horoskope lesen zu lassen, besser noch als des Pythagoras Lehrsätze aus dem Pentagon, wenn sie sich, westwärts blickend, schwatzend niederlassen im Angesicht der Spitzen durchglühter Pyramiden: mysteriosophisch.es Korn, verborgen in den antiken Eingeweiden der Welt, eines Tages geraubt aus den Eingeweiden der Welt, durch magischen Zauber kristallisiert. Ein armseliges Ei-Kügelchen, bläulich und weißlich, wie die Drüse einer toten Taube, die auf den Müll gehört: und zwei Ohrgehänge, mit zwei Tropfensteinen aus himmelblauem Azur, in gleichschenkeligen Dreiecken, an den Spitzen gerundet, schaukelnd und gewichtig, glückhaft-schwerelos für die Ohrläppchen einer him-melblaugewandeten, ausgelassenen Vollbusigen: Blau, das in seiner zartgestreiften Durchsichtigkeit vielfältig strahlte, als hätten sich goldene Strohfäden darein gebettet. Und ein großer Ring, zylinderförmig, in Gold gefaßt, der den Daumen des Nero oder den großen Zeh des Heliogabal geschmückt: mit einem ovalen Riesenbonbon, orangegrün schimmernd und gleich darauf zitronengelb: durchschossen von allen Strahlen des Morgens der Tagundnachtgleiche wie das helle Fleisch des Märtyrers von seinen hundertneunzig Pfeilen: überströmt von hellgrünen Lichtern morgendämmrigen Meeres, bis zum Gleißen des Flint: von dem die beiden unverzüglich entzückt zu träumen begannen: einem Pfefferminz-Flint auf der Piazza Garibaldi mittags um zwölf. Und ein Ringlein aus Goldgespinst, mit einem roten Granatapfelkörnchen, wie zum Wegpicken für ein Huhn: und endlich ein Anhängerchen, ein Klunkerchen, fast ein Kügelchen aus Methylenblau, welches das Gelb aus der Wäsche bleicht, gefaßt von einem goldenen Gehäuse mit einem Kringel: und mittels dieses Aufhängers, aus Goldmasche, anzuhängen, durch goldne Öse, an ein anderes und ebenso wesentliches Organ der Vervollkommnung: sei es die hochgefüllte Schönheit eines Busens oder auch der männliche Rockaufschlag oder die bebauchte und uhrbewehrte Autorität des Hüters eines solchen Busens, des Verwalters, Sittenbewahrers, des Gatten also: ›und Erzhammels‹, so dachte der Pestalozzi mit verkniffenen Zähnen. Ein Kreuz aus Granaten, dunkelrotes Leuchten schattiger Häuslichkeit. Ringe, Broschen: unverhofftes Wunder. Und Rubin und Smaragd erglänzten und ruhten in der Grube des rattenfilzigen Bettes, hausten einen Augenblick lang gemeinsam mit der Perlen wahrhafter Demut auf der abgenutzten und zerschlissnen Überdecke dieses Altweiberbetts: zwischen dem kostbaren Widerschein, dem Schlängeln und vielkantigen Schimmer des Goldes, an dem sich nach den Pupillen und Netzhäuten nun die Gedanken entzündeten. Broschen und Berlocken hatten sich in die Kettchen verwickelt und verhängt, wie Zwillingskirschen zwischen den zwiefachen Stengeln ihrer gepaarten Geschwister: die Anhänger hatten, im plötzlichen Katarakt des Sturzes, die Ringe mit sich gezogen. Rubin und Smaragd behaupteten sich körperlich auf der grauen Armut des Tuchs, der Abgenütztheit, in jener verschlossenen, stummen Pracht, die Kennzeichen ist der autonomen Natur gewisser Wesen und ihrer Seltenheit, ihrer natürlichen und eingeborenen Würde: jener mineralogischen Eigenart, die im knalligen Karneval schäbiger Glasscherben vorgetäuscht wird, mit verlogenem Geklinker und Gezwinker. Der Korund, als pleochromitischer Kristall, enthüllte sich als solcher auf dem Mausgrau seiner Umgebung, bewies seine Herkunft aus Ceylon oder Birma oder aus Siam, geadelt durch seinen strukturellen Gehorsam im glänzenden Grün oder im glänzenden Rot, oder im Nachtblau und auch als Ring noch: dem Gehorsam nach Gottes kristallographischem Vorbedacht: Erinnerung also, wie jedes Juwel, und individuelles Gestaltwerden in jener fernsten Erinnerung und im Werke Gottes: wahrhaftes Sesquioxyd Al2 O3, wahrhaft zur Form geworden als ditrigonales Skalenoeder seiner Klasse, vorausbedacht von Gott: dem Konzept des Finanzministers Tafano »Arbeit — Wert« zum Trotz.

Der Pestalozzi, nein, er war kein italienischer Finanzminister: und. die Menegazzi ebenfalls nicht. Ein gewisses Wertgefühl oder Unwertgefühl hatten sie alle beide: wenn's bei ihr vielleicht auch nur dazu diente, um sich den Fimmel zu erlauben, diesen Wert einmal auf dem Abort hegenzulassen (den Topas), da sie in der Tat keinerlei Genuß daran gefunden hätte, in keinem Teil ihres dithyrambischen und huspeligen Körpers, etwa einen Un-Wert auf dem Abort zu vergessen: einen Glasscherben. Edelsteine waren sie, die leuchtenden Rubine, man sah es, gekeimt und geboren in den Jahrtausenden des Weltbeginns. Der Fachmann konnte es feststellen und garantieren, ungeachtet des Schnittes, das heißt, ungeachtet künstlichen Schliffs und Politur.

Edelsteine, die sich auf natürlichem Wege aus dem flüssigen Sesquioxyd kristallisiert hatten: gemäß den Richtlinien des Systems: und nicht fälschliche Kristallisierung vortäuschten in einem lügnerischen Licht, einer lügnerischen Glorie, aus einem Napf voller Exkremente. So gefriert das Ungestüm, der Schmerz einer Seele zum Schrei, gerinnt zum Zeichen, den formenden Richtlinien des Gedankens folgend: zu einem gefrorenen Schrei! der nur der ihre ist, und nicht das Gekreisch eines anderen, nicht vom Jahrmarkt der Seelen und der Schreie. Es breitete indes der Brigadier mit den Fingern und mit der Geste dessen, der die Reiskörner verliest, eh er sie in den Topf wirft, breitete sie aus, die Steinchen, die Kieselchen, die Goldklunker-chen, die sagenhaften Zuckerkügeichen, die leuchtenden Edelsteine des Maharadscha, breitete sie aus auf der Bedrücktheit der elenden Bettdecke. Von diesen Dingelchen, diesen Goldsplittern und leuchtenden Körnern auf dem Braun des Tuches, zeichnete sich ein Muster ab, wie eine Leuchtkette (als sähe man sie jedoch von oben und von weither, vom Berg oder vom Flugzeug aus) von elektrischen Lampions in den Buchten der Riviera: so beperlt der Lichterglanz von Botafogo in den Bananennächten die Linie der Meeresküste und der Küstenstraße rings um die Niederlassung von Paõ de Azucar. Jene Juwelen schienen in diesem Augenblick aus dem Sammelbecken vieler Einbruchsdiebstähle wie aus einem Brunnen herabgesprudelt.  - Carlo Emilio Gadda, Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana. München 1988

 

Geschirr Nacht

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe

Synonyme