orgensonne Es
passiert mir auch heute noch, daß ich in Boulogne oder Billancourt an der Ecke
mancher Straßen, die zur Seine führen, eine gewisse herrenlose, unverhoffte
und wie frisch gefegte Reinlichkeit erhasche, die durch den geringsten Einfall
der Morgensonne gesteigert und beinahe auf Hochglanz gebracht wird: Man könnte
meinen, in ihnen sei.immer noch die naive Begeisterung der Arbeitergeneration
aus der Zeit vor der Überwindung der Erdenschwere heimisch und mache
sie leichter. Es ist klar, daß von solchen Straßen schon allein dadurch jedesmal
eine überraschende Wirkung auf uns ausgeht, daß sie von den abstoßendsten Formen
der Arbeit verschandelt sind und dennoch durch das flüchtige Glück eines Sonnenstrahls
verklärt werden. Diese Wirkung kann jedoch, wenn auch unerklärlicher, mitten
aus einem ganz gewöhnlichen bürgerlichen Viertel und praktisch aus dem Nichts
aufsteigen: aus einer Abschüssigkeit der Straße, die sich plötzlich als Einladung
und Verlockung vor unserem Schritt auftut, aus einer kaum spürbaren Krümmung
der Straßenachse, die den Ausblick gleichzeitig verstellt und halb freilegt,
aus einem Baum, der sich über die Krone eines alten Gemäuers auf den Gehsteig
herabneigt, aus einem Gleichgewicht, das durch Zufall in der Gliederung der
Baumassen und Zwischenräume entsteht und unversehens das Auge anspricht. Dann
überkommt uns das sehr einfache Gefühl, daß hier gut zu verweilen ist, daß hier
das Leben seine verlorenen Markierungen und seinen angeborenen Rhythmus wiederfindet
und die Welt mit einem kurzen lächelnden Augenzwinkern ihren Bund mit uns bekräftigt
und erneuert.
- Julien Gracq, Die Form einer Stadt. Graz 1989 (zuerst
1985)
Morgensonne (2)
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