uch,
fehlendes
»In Augenblicken vermisse ich das Buch, das die Menschen in ihrer Buntheit beschreibt
und in ihrer unterschiedlichen Existenz. Die Dichter haben es nicht vermocht,
einen Tag eines Einfarbigen zu beschreiben. Dieser Tag hat 86400 Sekunden, und
ein Mensch erlebt sie mit zwei bilüonen einzelner lebendiger Zellen, die täglich
aus ihrer Mitte viele millionen Samenzellen erwählen und von sich abspalten,
deren jede einzelne befähigt ist, wieder er selbst zu werden. Welche Verwirrung!
Unsre Gedanken sind verflucht, dies Labyrinth durchjagen zu können. Wir essen,
und die Speise wirkt in uns. Diese Milch, dies Fleisch, die Pflanzen.
Wenn wir Kaffee trinken oder Alkohol, dann fressen unsere Nieren heftiger Wasser
aus dem Blutsaft. Ich glaube, nur ein Gott hat dies anstellen können. Ich glaube
an Gott. Aber ich hasse ihn. Ich möchte ein Dichter sein. Ich möchte diese Kreatur
Mensch beschreiben. Ich möchte einen Tag beschreiben. 86400 weiße Blätter beschreiben,
jede Sekunde ein Blatt. Es wäre dann wenig gesagt. Es wäre etwas gesagt. Wir
brauchten uns dann nicht mehr voreinander verkriechen. Unsere Angst vielleicht
würde wachsen. Unsere Angst vor den Sekunden. Und die größere vor dem Tode.
Vor diesem Schweineschlachten. Wir würden in unserer uferlosen Pein darauf verfallen,
die Summen des Lebens zu errechnen. Diese Abbreviaturen. 73000 Küsse hat unser
Mund geküßt, ehe wir sterben. 210900000000 Samenzellen haben unsere Lenden abgesondert;
in 3650 Malen ist es von uns geflossen. 160 mal ist das Fleisch an uns mittels
Nahrungsaufnahme erneuert worden, außer den Knochen, bis der Tod das Dahinschwindende
nicht wiedergab. Wir sind diese 160 Male zuvor verwest in den verwesenden Speisen.
Ausgeatmet in den Wind. Verbrannt zu Harn, zu Tränen, zu Speichel. Es ist kein
Wunder, daß wir stinken. Es könnte erwiesen sein, wir müssen übel riechen.«
- Hans Henny Jahnn, Perrudja. Frankfurt am Main
1966 (zuerst 1929)
|
||
|
|
|