Ausatmen  Ich weiß nicht, wie spät es war, als mehrere Herren, die einander nie gesehen hatten, die zuerst nur dasaßen und ihren zeitlosen Kaffee tranken, als die alle eine, sagen wir einmal: eine Dame anschauten, die sich im Odeon selber eine Zigarette anzündete. Selbst ein Photograph hätte da nicht mehr photographiert. So waren wir weggesaugt aus unseren sonst doch akut empfundenen Biographien. Die Dame verschmälerte ihr Gesicht beim ersten Ziehen. Wir alle nahmen teil an dem Schicksal der Luft, die sie eingesogen hatte, als wäre diese Luft, die jetzt die Dame als Rauch durchzog, uns ein Liebstes. Als der Rauch in den Lungen der Dame auswölkte, sahen wir die Lungenfinsternis sich blau verfärben. Gleich entstand ein Sog, der Rauch durfte nicht länger mit den Lungenlappen spielen, mußte Farbe abgeben, sich farbloser zurückziehen und sich durch die Damennase ausblasen lassen. Wir wollten auch ausatmen. Was aber jetzt aus den runden Nasenlöchern dieser Dame hervorkam, war so alarmierend, daß wir das Atmen noch einmal verschieben mußten. Turkisfarben war dieser Rauch, von dem wir doch erwarten mußten, er sei in den Lungen der Dame grau geworden. Diesen türkisfarbenen Rauch blies sie in zwei auseinanderströmenden Bahnen aus. Solch scheinwerferhaft solide Bahnen dürfen sonst nur aus den Nüstern mythologischer Pferde strahlen. Und erst weit draußen über ihren Knien lösten sich die zwei Rauchbahnen in Wirbel auf. Es entstanden aber nicht für kleinen Beifall ein paar flach schwebende Kringel, sondern zwei wirbelnde Wolken. Ich darf sagen, Anselm hat sofort an Laplace gedacht. Also verstand er es geradezu, als aus dem zweifach türkisfarbenen Brodeln zwei Windhunde sich bildeten. Und wer sich zur eigenen Beruhigung einreden wollte, diese Windhunde seien immer schon dagewesen, vielleicht unter dem Tisch, und hätten sich jetzt erst aufgerichtet, um die rauchende Herrin an ihr Vorhandensein zu erinnern, der mußte sich korrigieren, als die Dame durch einen zweiten Zug an ihrer Zigarette abermals solche Bahnen, ein so zielstrebiges Wirbelchaos und abermals zwei Windhunde produzierte. Die zuschauenden Herren, das wird ihnen keiner verdenken können, warteten auf den dritten Zug aus dieser Zigarette. Die Dame aber, von der die Herren das dritte Paar Windhunde nun schon wie eine Leistung erwarteten, die man verlangen kann, senkte ihre Zigarette wie eine Fackel und drückte sie dann sorgfältig aus, als hätte sie Sorge, es entstünde sonst noch nebensächlich Unerwünschtes. Also nur vier Windhunde.    - Martin Walser, Das Einhorn. Frankfurt am Main 1966
 
 

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