Zweitmutter    Ich besitze auch noch eine andere Mutter, die gewiß auch nicht sehr brillant ist, zumal wenn ich bedenke, daß die Gäste sie meist für eine große Meringe halten, die man gegen eine Wand geklatscht hat. Jedenfalls pulsiert diese Meringe, singt vor sich hin und bewegt sich langsam fort (wenige Zentimeter im Jahr). Außerdem besitzt sie eine Pustel, die ein Auge, ein Bauchnabel oder eine Klitoris sein könnte. Um den unvermeidlichen Neid zu vermeiden, der sich speziell an Regentagen einschleicht (und welches sind keine Regentage?), mußte ich sie überreden, in ein benachbartes Zimmer umzuziehen, unter dem Vorwand, daß ihr der Rauch schlecht bekommt - und dabei weiß ich doch gut, daß sie sich nicht selten mit Tabak, den ihr die Dienerschaft vom Trottoir aufliest, bestreuen und sich dann Feuer geben läßt. Für ihre Übersiedlung mußte ich ihren nächsten Tod abwarten - aber gottlob stirbt diese Mutter viel, verbraucht wie sie ist durch ihre in schändlichstem Schacher mit dem eigenen Körper verbrachte Jugend. Ihr Preis war so niedrig, daß sie oft ganze Monate in absoluter Enthaltsamkeit verbrachte, da niemand die winzigen Münzen besaß, die sie begehrte und die - ich bin ganz sicher - das einzige Motiv für ihre Prostitution darstellten; und wenn es einmal irgendwem, speziell einem Matrosen oder einem Kameltreiber, in seiner unendlichen Misere gelang, jene mageren und abgegriffenen Münzen aufzutreiben, so handelte es sich bestimmt um ein Individuum, das durch die Armut so weit heruntergekommen war, daß es sich nicht nur als unfähig erwies, den Geschlechtsakt zu vollziehen, sondern darüber-hinaus nicht einmal wußte, daß es einen solchen gab, und sich dazu noch in einem Alter befand, in dem eine diesbezügliche Offenbarung auf ein derart ausgezehrtes und untaugliches Leben nur unheilvermehrend gewirkt hätte. Dieser Trieb zur Liederlichkeit, durchdrungen und durchkreuzt von einer inkompatiblen peripheren Lust - so weitgehend, daß diese Mutter ein gleichzeitig keusches und hurenhaftes Wesen war - hat sie mit den Vorspiegelungen einer totalen, aber unmöglichen Sündhaftigkeit gänzlich zermürbt, insofern sie einerseits der absoluten Libido frönte und andererseits von jeglichem Genuß der Schleimhäute, welche bekanntlich die Libido regieren, ausgeschlossen blieb.  - Giorgio Manganelli, Unschluß. Berlin 1978
 

Mutter

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