Zusammenhanglosigkeit  Im Bereich von Null zu Eins, von Nicht-Etwas zu Etwas, kann Pointsman nur die Null und die Eins besitzen. Er kann nicht, wie Mexico, an jedem Ort dazwischen leben. Genau wie sein Meister I. P. Pawlow vor ihm, stellt er sich die Großhirnrinde als Mosaik aus winzigen Ein/Aus-Elementen vor. Stets sind einige in heller Erregung, andere dunkel verstummt. Die Konturen, hell und dunkel, wechseln ständig. Doch jeder einzelne Punkt kann nur einen dieser beiden Zustände annehmen: Wachen oder Schlaf. Eins oder Null. «Summierung», «Transition», «Irradiation», «Konzentration», «gegenseitige Induktion» - die ganze Pawlowsche Hirnmechanik basiert auf der Annahme solcher bistabilen Punkte. Zu Mexico jedoch gehört die Domäne zwischen Null und Eins, die Mitte, die Pointsman aus seinem Weltbild ausgeschlossen hat - die Wahrscheinlichkeiten. Eine Wahrscheinlichkeit von 0,37, daß bis zu dem Zeitpunkt, da er zu zählen aufhört, ein gegebenes Quadrat nur einen Treffer abbekommen hat, 0,17, daß es zwei sind ...

«Können Sie denn nicht... genauer sagen», Pointsman bietet Mexico eine Kyprinos Orient aus einer der Geheimtaschen an, die in alle seine Laborkittel eingenäht sind, «mit Hilfe Ihrer Karte hier, welche Orte am sichersten waren, am sichersten vor Raketenangriffen ?»

«Nein.» 

«Aber Sie könnten doch-»

«Jedes Quadrat hat die gleiche Chance, erneut getroffen zu werden. Die Einschläge häufen sich nirgends. Die mittlere Dichte bleibt konstant.»

Nichts auf der Karte könnte ihn widerlegen: Eine klassische Poisson-Verteilung, gelassen und sauber über die Quadrate gesiebt, ganz wie es sich gehört... der vorhersagbaren Form entgegenwachsend ...

«Aber was ist mit den Quadraten, die schon mehrere Treffer abbekommen haben? Ich meine -»

«Tut mir leid. Das ist genau der Monte-Carlo-Trugschluß. Es spielt nicht die geringste Rolle, wie viele schon auf einem bestimmten Planquadrat niedergegangen sind, die Wahrscheinlichkeit verändert sich deshalb nicht. Jeder Einschlag ist von allen anderen völlig unabhängig. Bomben sind keine Hunde. Kein Verbindungsglied. Kein Gedächtnis. Keine Konditionierung

Und das einem gläubigen Pawlowianer! Weiß Mexico denn eigentlich, was er da sagt, oder handelt es sich wieder nur um seine altbekannte, arrogante Fühllosigkeit? Wenn es tatsächlich keine Verbindung zwischen den Raketeneinschlägen gibt, keinen Reflexbogen, kein Gesetz der negativen Induktion ... dann ... Er geht zu Mexico, an jedem Morgen, wie zu einem schmerzhaften chirurgischen Eingriff. Von Tag zu Tag schaudert ihn mehr vor diesem Chorknabenblick, diesen Studentenscherzen. Aber es ist ein Besuch, der sich nicht umgehen läßt. Wie bringt es Mexico nur fertig, mit diesen Symbolen der Zufälligkeit und des Entsetzens so spielerisch und unbekümmert umzugehen? Unschuldig wie ein Kind, vielleicht ohne zu ahnen - vielleicht -, daß er mit seinem Spiel die eleganten Zimmer der Geschichte verwüstet, ja die Idee von Ursache und Wirkung selbst bedroht. Was geschähe, wenn sich herausstellte, daß Mexicos ganze Generation sich so entwickelt hat? Wird die Nachkriegszeit nur noch aus Zufallsereignissen bestehen, isoliert, von einem Augenblick zum nächsten neu erschaffen? Ohne Verbindungsglieder? Ist dies das Ende von Geschichte?   - Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei Hamburg 1981

Zussammenhanglosigkeit (2)   Erzählungen, ohne Zusammenhang, jedoch mit Association, wie Träume. Gedichte - blos wohlklingend und voll schöner Worte - aber auch ohne allen Sinn und Zusamenhang - höchstens einzelne Strofen verständlich - sie müssen, wie lauter Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen seyn. Höchstens kann wahre Poësie einen allegorischen Sinn im Großen haben und eine indirecte Wirckung wie Musik etc. thun - Die Natur ist daher rein poëtisch - und so die Stube eines Zauberers - eines Physikers - eine Kinderstube - eine Folter und Vorrathskammer. - Novalis, Fragmente und Studien 1799/1800
 
 

Zusammenhang Mangel

 

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