Zunge, rote (2)
Zunge, rote (3) Jetzt in Kalighat, wo die zerlumpten Bündel, die nachts von den Straßen aufgelesen werden, in Mutter Theresas Sterbeheim noch einmal genug Reis bekommen. Daneben (endlich) der Tempel der Göttin Kali. Vasco zahlt dem erklärenden Priester fünf Rupies. An der Opferstätte erinnert noch Blut mit Fliegen drauf an Ziegen, die vormittags geopfert wurden. Junge Frauen kratzen kleine Glückszeichen in den blutgesättigten Lehm. Daneben ein Baum für Mütter, die sich Kinder, viele Kinder, noch ein Kind, mehr Kinder, immer mehr Kinder, Jahr für Jahr Kinder wünschen. Die Mütter hängen Wunschsteine in den Baum. Der Baum hängt voller Wunschsteine, die alle Kinder, mehr Kinder bedeuten. Überall blumiger Wahnsinn und hinduistischer Kitsch von katholischer Qualität. Die schwarze Kali bleibt hinterm Andrang der Gläubigen verborgen.
Vasco steht abseits. Er will wissen, warum sie die Zunge rot rausstreckt.
Der Priester erzählt, daß Kali, nachdem sie alle Dämonen (und sonstige Konterrevolutionäre)
gekillt hatte, nicht aufhören konnte mit dem Killen und erst zur Besinnung kam,
als sie den Fuß schon auf die Brust ihres flach liegenden männlichen Aspektes,
auf Shiva gesetzt hatte. Da schämte sich Kali und streckte aus Scham
die Zunge raus. Seitdem gilt in Indien das Zungerausstrecken
als Zeichen von Scham. Nirgendwo sah Vasco einen Minister, Gouverneur, Brahmanen,
einen lispelnden Dichter die Zunge rot rausstrecken. Er sah die blassen Zungen
der Kühe, die sanft im Müll weiden. Er sah, wie Unterernährung die Kinder blond
werden läßt. Er sah, wie Mütter die Nuckel ihrer quengelnden Kinder in brackiges
Zuckerwasser tauchen. Er sah Fliegen auf allem, was ist. Er sah das Leben vor
dem Tod. - (but)
Zunge, rote (4)
Zunge, rote (5, japanische)
- Kawanabe Kyosai
Zunge, rote (6, akrobatische)
Zunge, rote (7)
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