Zug, böser  Als Jabert in Shearns Hotel auf dem Tottenham Court Road eintrat, war niemand zu sehen. Nachdem er seinen Koffer in das Zimmer getragen hatte, in dem er schon zweimal übernachtet war, ging er in das W. C., in dessen Tür er auf einen jungen Mann in einer Ärmelweste stieß, der von seltener, beinahe unwirklicher Schönheit war, aber einen dermaßen bösen Zug um den Mund hatte, daß er sich wunderte, ihn so offen zur Schau getragen zu sehen.

Obwohl es erst sieben Uhr abends war, ging Jabert sogleich zu Bett. Er hatte in Devonshire den kompliziertesten Kassenschrank seiner Karriere bewältigt und schlief, übernächtigt, augenblicks ein. Als er gegen fünf Uhr morgens erwachte, hörte er ein schleifendes Geräusch auf dem Korridor. Unwillkürlich dachte er an den schönen jungen Mann vom vergangenen Abend. Der Plan, ihm einen Besuch zu machen, war kaum erwogen, als Jabert auch schon entschlossen war, in sein Zimmer einzudringen. Mit dem Erforderlichen versehen, schlich er sich auf den Strümpfen vor das W. C., um die Richtung zu rekonstruieren, in welcher der junge Mann gegangen war. Daselbst befanden sich nur zwei Zimmertüren, deren erste er mit drei Stichen Öffnete. Das Zimmer war unbesetzt; das zweite unversperrt, das Bett unberührt. Schon wollte er sich zurückziehen, als das Licht seiner Taschenlampe zufällig das Fenster streifte. Er zuckte zusammen: sah er recht ...? Hing da nicht ...? Ja, dort am Fenster hing ein Mann, hatte sich einer aufgehenkt.

Jabert drehte das Licht an und den Körper des Toten sich zu, um den abgewandt hängenden Kopf sehen zu können. Er erblickte, was er eigentlich schon gewußt hatte: das Gesicht des schönen jungen Mannes mit dem bösen Zug um die Lippen, den der Tod in einen abschreckend häßlichen verwandelt hatte. Jabert öffnete die Hose des Toten, um festzustellen, ob Selbstmord vorlag. Das untrügliche Zeichen fehlte. Im selben Augenblick vernahm er vom Korridor her dasselbe schleifende Geräusch. Sofort kroch er unters Bett. Einige Sekunden später spürte er einen schwachen Luftzug: die Tür war geöffnet worden. Da entdeckte er neben dem Fenster eine Frau, die, nur mit dem Hemd bekleidet, auf dem Fußboden lag.  -  Walter Serner, The mistery of Tottenham Court Road. In: W. S.,  Die tückische Straße. München 1982 (zuerst ca. 1926)

 

Physiognomie Böse

 

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