ündeln
Mein langjähriger russischer Freund Wladimir Sorokin hat
mich bei unserer ersten Begegnung Anfang der neunziger Jahre in Dresden gefragt:
"Durs, was ist tabu in eurer Literatur?" Ich dachte einen Moment nach
und sagte ihm dann: Verherrlichung der Gewalt, Antisemitismus und Misogynie.Das
sind, erklärte ich ihm, drei Grundregeln bei uns, die jeder Autor für den Gebrauch
des Textes wissen muss. In den letzten Jahren wurden alle drei von einzelnen,
sehr diffizilen, deutschsprachigen Denkern auf subtile Weise unterlaufen. Das
geht von Walser über Handke bis Menasse. Immer wieder kommt bei wirklich begabten
Künstlern eines Tages die Lust zu zündeln. Die Russen der Generation von Sorokin
machen das mit viel Verve. Sorokin betrachtet die deutsche Gegenwartsliteratur,
wo sie das nicht tut, einfach als feige. Sie ist für ihn eine marginale, an
den Themen der Zeit vorbei schreibende Literatur. Und darum völlig uninteressant
für die russischen Leser. - Durs Grünbein, in: Berliner Zeitung
25./26.September 2004