uchthaus,
Zürcher
Wird die Glastüre geöffnet, überschreitet man die geheimnisvolle Schwelle,
dringt man ins Innerste vor, sei es als leicht verlegenes Mitglied einer Kommission,
sei es als Gefangener, abgeliefert von der Justiz, steht man staunend vor einem
väterlichen Reiche strengster, doch nicht unhumaner Ordnung, vor drei gewaltigen
fünfstöckigen Galerien nämlich, von einem Ort aus zu überblicken, durchaus nicht
düster, sondern von oben her lichtdurchflutet, vor einer Käfig- und Gitterwelt,
gewiß, doch nicht ohne Freundlichkeit und Individualität, erspäht man doch hier
durch eine halboffene Zellentür eine himmelblau gemalte Zellendecke und das
zarte Grün einer Zimmerlinde, dort freundliche, zufriedene Gestalten in brauner
Anstaltskleidung; der Gesundheitszustand der Insassen ist vortrefflich, die
klösterliche, regelmäßige Lebensweise, das frühe Lichterlöschen, die einfache
Nahrung wirken wahre Wunder, die Bibliothek bietet neben Reise- und Lebensbeschreibungen,
neben Erbauungsgeschichten beider Konfessionen, wenn auch nicht das Neueste,
so doch Klassiker, und die Direktion pro Woche eine Filmvorführung, diese Woche
>Wir Wunderkinder, der Besuch der Predigt übertrifft jenen von außerhalb
der Mauer prozentual erklecklich, das Leben spult langsam und regelmäßig ab,
man ist mäßig gehalten und unterhalten, kriegt seine Noten, gutes Betragen lohnt
sich, erleichtert die Lage, freilich nur für jene, die ein Jahrzehnt oder gar
nur wenige Jahre abzusitzen haben, da lohnt sich die Erziehung. Dagegen wo Hopfen
und Malz verloren ist, für die Lebenslänglichen, werden Erleichterungen
ohne Verpflichtung zur Besserung gewährt, stellen sie doch den Stolz des Hauses
dar, Drossel und Zärtlich etwa, die, als sie ihr Unwesen trieben, den Bürger
in Furcht und Schrecken versetzten, werden von den Wärtern mit scheuer Hochachtung
behandelt, sie sind die Stargefangenen und fühlen sich auch so. Daß da bei den
gewöhnlicheren Kriminellen bisweilen Neid aufkommt und sich einer so Gott will
vornimmt, das nächste Mal gründlicher vorzugehen, sei nicht verschwiegen,
auch die Medaille, die unser Zuchthaus verdient,
hat ihre Kehrseite, aber als Ganzes genommen: wer wird da nicht tugendhaft;
zusammengebrochene, von ihren Ämtern und Posten gestürzte Obersten beginnen
aufs neue zu hoffen, Raubmörder wenden sich der Anthroposophie, Unzüchtler und
Blutschänder sonst einem geistigen Streben zu, Tüten werden geklebt, Körbe geflochten,
Bücher gebunden, Broschüren gedruckt, in der Schneiderei lassen selbst Regierungsräte
ihre Maßanzüge anfertigen, dazu durchzieht ein warmer Brotgeruch das Haus, die
Bäckerei ist berühmt, ihre 'Wurstwecken staunenswert (die Würste werden geliefert),
Wellensittiche, Tauben, Radios sind durch Fleiß und Höflichkeit zu verdienen,
für weitere Bildung sorgen Abendschulen, und nicht ohne Neid dämmert es einem
auf, begreift man plötzlich, daß diese Welt in Ordnung ist, nicht die unsrige.
- Friedrich Dürrenmatt, Justiz. Zürich 1987
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