one,
laue
Die Vernunft kommt in der Natur nur sehr schleppend
in Gang, auf den verkrusteten Überbleibseln von Sternen, in einem recht schmalen
Streifen zwischen den Planeten, die durch ihre Nähe zur Sonne verschmoren, und
anderen, die in weiter Ferne von ihr vereisen. In dieser lauen Zone, nicht mehr
in der Feuersglut und noch nicht in der Eiseskälte, fügt die Energie der Sonne
in den salzigen Lösungen der Meere Moleküle zu den Figuren chemischer Tänze
zusammen, bis die Gavotte vor einer Milliarde von Jahren dann und wann den Ur-keim
der späteren Vernunft entstehen läßt, doch müssen viele Bedingungen erfüllt
sein, damit die Schwangerschaft ausgetragen wird. Der Planet muß ein bißchen
Arkadien und bißchen Hölle sein. Ist er nichts als Arkadien, so gerät das Leben
ins Stocken und gelangt nie über die bloße Wiederholung des Pflanzlichen hinaus
zur Vernunft. Ist er nichts als Hölle, so wird das Leben in seine Schrunde abgedrängt
und erhebt sich ebenfalls nicht über das Niveau der Bakterien. Epochen der Ge-birgsbildung
fördern die Entwicklung vielfältiger Arten, und Epochen der Vereisung, die aus
seßhaften Arten Wanderer machen, stacheln die Erfindungskraft an, doch dürfen
die ersteren nicht allzusehr die Atmosphäre durch die Ausdünstungen der Vulkane
vergiften und die letzteren nicht die Ozeane zu Eis erstarren lassen. Die Kontinente
müssen sich senken und die Meere sie überspülen, jedoch nicht allzu plötzlich.
Diese Veränderungen rühren daher, daß der erstarrte Planet weiterhin einen glühenden
Kern besitzt, der zugleich Anker eines Magnetfeldes ist, welches das Erbplasma
gegen den Sonnenwind abschirmt, der es in erheblichen Dosen zerstört, in kleinen
Dosen jedoch seine schöpferischen Kombinationen beschleunigt. Von Zeit zu Zeit
muß es daher zu einer Umkehr der magnetischen Pole kommen, aber nicht zu oft.
All diese Rührwerke des Lebens verschaffen ihm die Möglichkeit, sich darzustellen,
doch verengen sie sich alle zig Millionen Jahre zu Nadelöhren, vor denen sich
Hekatomben von Leichen auftürmen. Die zeitlichen Abstände, in denen der Planet
und der Kosmos immer wieder blindlings in die Biogenese einbrechen, stellen
eine Zufallsvariable dar, die unabhängig ist von der jeweiligen Abwehrbereitschaft
des Lebens, und deshalb wollen wir loyal sein: Es hat sowohl in seinen Niederlagen
wie in seinen Erfolgen große Schwierigkeiten, denn weder die Sättigung noch
die Auszehrung sind der Entstehung der Vernunft förderlich. Hat das Leben sich
einstweilen behauptet, so kann es mit der Vernunft nichts anfangen, und hat
diese keinen Spielraum, um durch die Bildung neuer Arten rettend einzugreifen,
so ist sie ebenfalls nicht zu gebrauchen. Ist also das Leben die Ausnahme von
der Regel lebloser Planeten, so ist die Vernunft die Ausnahme von der Regel
des Lebens, eine außergewöhnliche Ausnahme, und sie wäre eine denkwürdige Seltenheit
in den Galaxien, wären diese nicht so ungeheuer zahlreich.
- Stanislaw Lem, Also sprach GOLEM. Frankfurt am Main
1986 (zuerst 1973)
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