Zimmerschlüssel  Trete ich in mein Zimmer, so trete ich zunächst nicht in mein Zimmer. Denn ich habe keinen Schlüssel. Der Schlüssel hat seinen Ort, an den er sich hingewöhnt hat, in einer Stube meines Geschosses, halb um das Haus herum Jedenfalls nicht beim Portier. Er kehrt hartnäckig, mit Instinkt dahin zurück, wie ein Pferd oder Hund, auch wenn ich ihn in Gedanken beim Portier abgebe. Habe ich ihn dann, so habe ich zwei. Es sind immer zwei an einem eisernen Ring, ein Zwillingspaar, das ich nicht trennen kann. Welcher von ihnen meiner, der richtige ist, kann ich nicht ermitteln. Ich habe jedesmal physikalisch, durch Ausprobieren, die Identität festzustellen, da ich keinen Knoten in das Eisen machen kann. Und einen Tintenstrich, den ich an den richtigen machte, wischte der bedienende barfüßige Junge wieder ab. Ich suchte dem Jungen ein zweites Mal klarzumachen, was der Strich bedeute; er sprach polnisch, ich deutsch. Ich sprach, gestikulierte. Er sah mir interessiert zu, riefeinen zweiten Jungen, der auch Interesse an mir nahm. Sie betrachteten beide den Strich, dieses Resultat meiner langen Überlegungen, schüttelten den Kopf, lachten. Dann hatten sie offenbar die Auffassung, daß ich mich über den Strich beklagte, als über eine Unsauberkeit an dem Schlüssel. Denn plötzlich spuckte der eine Junge auf den Schlüssel, wischte ihn am Ärmel ab, gab ihn mir mit aufgehelltem Gesicht wieder. Sie erwarteten meine Reaktion. Ich versuchte nun den richtigen Schlüssel vom Bund abzumachen, da griffen beide ein, sagten protestierend ein längeres Gebet und drückten mir die hoffnungslos untrennbaren Objekte wieder in die Hand. Ich zog ab. Da stand ich in dem Korridor, der ziemlich finster beziehungsweise total dunkel war. Stand mit dem Zwillingspaar und erwog, wie es diesmal abgehen würde. Die Gemütsart des Schlüssels und dieser Tür war mir schon bekannt. Die Türklinke nämlich hing zwar herab, aber wenn es glückte - und dem barfüßigen Jungen glückte es zu meinem Ärger immer -, funktionierte sie. Das Schloß hingegen war völlig verstockt, von einer enormen Tiefe, durch die ganze massive Tür durch. Man durchbohrte mit dem Schlüssel die ganze Tür, stieß ihr mitten ins Herz und - kam innen heraus. Gerade das war falsch. Man mußte drin bleiben. Die Tür ließ dem Angreifer ruhig das Behagen, zuzustoßen, und schon saß er auf. Man mußte bei einer gewissen Tiefe haltmachen. Bei welcher: das war eben das Geheimnis. Ich bin mir über eins nie klargeworden : der andere Schlüssel, der falsche, paßte irgendwie auch. Drehte ich aber mit diesem Schlüssel, dem notorisch falschen -der offenbar zu einer anderen Tür gehörte, vielleicht zu meinem Schrank, der immer ohne Schlüssel war [das fällt mir eben ein und ist wahrscheinlich die Lösung des Rätsels, der Grund des Widerstrebens der Zimmerjungen] -, drehte ich mit dem notorisch falschen Schlüssel eine Zeitlang, etwa eine viertel bis halbe Stunde, in einer gewissen Tiefe des Schlosses, so war es ganz aus. Ich mußte «Pater peccavi» sagen, den Jungen holen, der sofort unter rätselhaften Prozeduren und Beschwörungen die Tür rüttelte, sie zur Ordnung rief, dann einen der beiden Untrennbaren nahm und sanft aufschloß. Sie öffnete sich, die Tür. Ich selbst erwischte manchmal zufällig den richtigen Schlüssel. Dann drehte ich ihn auf besonders kultivierte Weise. Ich betastete sorgfältig, zärtlich das Innere des Schlosses. Denn es hatte keinen Sinn, hier grob zu werden. Wie ein Tier ließ das Schloß alles mit sich machen. Ich suchte, gespannt, sehr höflich, scheinheilig. Endlich fand ich die fragliche Tiefe, drehte herum, einmal, zweimal, - manchmal [mein Herz erstarrte] dreimal, viermal, fünfmal. Es konnte immer so weiter gehen; ich würde nie ermitteln, wann ich aufzuhören hatte. Jetzt fiel mir ein, was die Kugelspuren an manchen Wänden und Türen bedeuteten: es waren Zeichen der Schüsse, mit denen man Gäste hatte umbringen müssen, die von den Türen nicht hatten loslassen können und schließlich den Verkehr im Hotel hinderten. Ich arbeitete angstvoll, und ich hatte Glück! Die Bosheit der Tür war nicht sehr groß; das Alter macht schwach und gütig. Nach einer gewissen Zahl Rückdrehungen war es richtig. Dann ging die Tür nämlich nicht auf. Sie war offen, aber sie ging nicht auf. Es lag nun wieder an der Klinke. Die hing in einem bestimmten losen Zustand, der zugleich eine unheimliche Festigkeit der Tür verbürgte. Man konnte diese Tür meist nicht völlig zuwerfen: sie sprang sofort wieder auf. Schnappte sie aber ein, dann mit Entschlossenheit, mit Dickköpfigkeit. Ich hatte die Aufgabe, nach dem Angriff auf das Schloß, der Klinke zuzureden, sie zu erweichen, aus ihrem Beharrungszustand durch gewisse Aktionen herauszumanövrie-ren. Auch das war nur durch Liebe, verbunden mit Energie, möglich. Sanft mußte man drücken, ziehen, schaukeln; dann plötzlich, nachdem man sozusagen die Klinke in Sicherheit gewiegt hatte, mußte man ihr einen fürchterlichen Stoß geben. Die Überraschung, Überrumpelung, der Handstreich machte es. Die Tür flog auf, flog gegen den Waschtisch, der deswegen von der Hotelverwaltung auch nur kriegsmäßig mit zwei massiven Waschgeräten versehen war, keineswegs mit Wassergläsern, Karaffen. Nur Ahnungslose konnten sich ärgern, daß sie zum Mundspülen, Zahnputzen nichts vorfanden; sie wußten nicht um die Seele dieses Hauses.

Ich, von früher her mit solchen Dingen vertraut, fand mich ein. Ich wurde vertraut mit der Tür auf magisch-kabbalistische Art. Ließ sie sich morgens beim Weggehen leicht öffnen, so war die Luft rein. Weigerte sie sich, so mühte ich mich nie. Ich fastete, nahte ihr stündlich mit Anfragen, bis sie mich hinausließ. Sie zeigte große Übersicht, volles Verständnis fiir meine Geschäfte.    - Alfred Döblin, Reise in Polen. München 1987 (zuerst 1925)

 

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