Zimmer, sprechendes  Eine Zeitlang blieb ich stocksteif liegen, bis ich wieder Stimmen hörte. Nebenan schnarchte die Alte. Jemand im Zimmer verkündete mit halblauter Stimme, die keinen Widerspruch duldete: »Der Elefant ist das größte von allen auf der Erde lebenden Tieren. Auf seiner Nase sitzt ein mächtiges Stück Fleisch, welches deshalb Rüssel genannt wird, weil es hohl und langgestreckt ist, wie ein Rohr. Er kann diesen Rüssel nach Belieben ausstrecken oder krümmen und gebraucht ihn anstelle der Hände...«

Es lief mir kalt über den Rücken vor Neugierde, und so drehte ich mich vorsichtig auf die rechte Seite. Das Zimmer war indessen menschenleer wie vorher. Die Stimme fuhr inzwischen mit ihren Belehrungen fort, diesmal jedoch bereits ganz schulmeisterlich: »Wein, in geringen Mengen genossen, ist dem Magen äußerst zuträglich. Wenn man aber zuviel davon konsumiert, so erzeugt er giftige Dämpfe, welche den Menschen auf die Stufe des nicht mit Vernunft begabten Viehs herabwürdigen. Wenn Sie manchmal einen Betrunkenen auf der Straße gesehen haben, so erinnern Sie sich doch sicherlich an die völlig berechtigte Abscheu, die Sie einem solchen Individuum gegenüber empfunden haben ...« Ich fuhr mit einem Ruck hoch und setzte die Füße auf den Boden. Der Sprecher verstummte sogleich. Es schien mir, als ob die Stimmen irgendwie aus den Wänden kamen. Im Zimmer war alles wie früher, sogar der Kleiderrechen hing zu meiner größten Verwunderung ordentlich an seinem Platz. Und ich verspürte - zu meiner allergrößten Verwunderung - schon wieder einen mächtigen Appetit. »Tinktura ex quitro antimonii«, verkündete plötzlich eine andere Stimme. Ich fuhr zusammen. »Lirum larum lapidarum, quacksalberium qua et quä. Pro et antimonium, oleum ex stinkenbrunn, müsli in harmonium!« Man hörte ein deutliches Kichern. »Was ist denn das für ein Unsinn!« sagte die Stimme von vorhin, und fuhr in holpriger Intonation fort: »Bald, ach, bald sollen jene Augen, die ja ohnehin nichts taugen, nicht das Licht der Sonne sehen (warum eigentlich nicht, und was für Augen?). Schließen auf immer sollen sie sich aber nicht eher (das war ja noch schöner!), als dir von meiner großzügigen Vergebung (ei, ei!) kundgetan würde... Auszug aus dem Traktat Der Geist oder Die sittlichen Überlegungen des hochberühmten Herrn Joung, ein Extraktum aus seiner nächtlichen Traumwelt«. Im freien Verkauf zu St. Petersburg sowie zu Riga in den Bücherläden des Herrn Sweschnikov, zwei Rubel das Stück, in bestem Karton gebunden.« Da ertönte ein leises Schluchzen. »Wieder so ein Unsinn«, ließ sich eine andere Stimme vernehmen und begann ein pathetisches Gedicht zu rezitieren:

Vorbei, vorbei, vergebens
die Herrlichkeit des Lebens,
die Schönheit, Ruhm und Habe
wir tragen sie zu Grabe ...

Jetzt hatte ich herausgefunden, woher die Stimmen kamen. Aus dem trüben Spiegel in der Ecke. »Und jetzt aufgepaßt«, sagte eine andere Stimme. »Das einzige Ich, das ist das Weltich, und zwar bin das ich. Kapiert? Die Vereinigung alles Unbewußten, welches selbige aus der Dunkelheit der Welt hervorgeht, bringet das Ich zum Verschwinden mit der Entwicklung der Geisteskraft.«

»Und woher stammt dieses Gefasel?« fragte ich, ohne eigentlich eine Antwort zu erwarten. Ich war nämlich überzeugt, daß ich schliefe.

»Zitate aus den Upanischaden«, antwortete die Stimme dienstfertig.

»Und was sind die Upanischaden?« Ich war jetzt nicht mehr so sicher, ob ich schlafe. »Weiß ich nicht«, war die Antwort. Ich stand auf und ging auf Zehenspitzen zu dem alten Spiegel hin. Ich schaute hinein - und konnte mein Spiegelbild nicht sehen. In dem trüben Glas spiegelte sich der Vorhang, die Ecke, wo der Ofen stand und eine Menge andern Zeugs. Aber ich war nicht zu sehen.

»Was ist los?« fragte die Stimme. »Irgendwelche Fragen?«

»Wer spricht da?« sagte ich und schaute hinter den Spiegel. Hinter dem Spiegel befand sich eine Menge zusammengepreßter Staub und ein paar zusammengepreßte tote Spinnen. Daraufhin drückte ich mit dem rechten Zeigefinger gegen mein linkes Auge. Das war nämlich ein altbewährtes Mittel zur Erkennung von Halluzinationen, welches ich in dem sehr anregenden Buch von V. V. Viteurs »Aberglauben leicht gemacht« entdeckt hatte. Man braucht bloß mit dem rechten Zeigefinger auf den linken Augapfel drücken, und sofort verdoppeln sich alle realen Gegenstände - im Unterschied zu den Halluzinationen. Der Spiegel verdoppelte sich auch prompt, und es erschien mein eigenes Gesicht darin: Eine verschlafene, aufgedunsene Fratze. Ein kalter Luftzug wehte mir um die Beine. - Arkadi und Boris Strugatzki, Montag beginnt am Samstag. Frankfurt am Main 1982 (st 780, zuerst 1965)

 

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