iegenwesen     Nicht weit von seinem Wagen entfernt lief etwas Kleines über den Bürgersteig. Etwas, das vor ihm zurückwich, als ob es Angst hätte. Ein Tier - größer als eine Katze. Aber es schien auch kein Hund zu sein.

Asher blieb stehen, bückte sich und streckte seine Hand aus. Das Tier kam unsicher näher - und dann hörte er plötzlich seine Gedanken in seinem Kopf. Es kommunizierte mit ihm telepathisch. Ich stamme von deinem Planeten im CY30-CY30B-System, sagte es. Ich gehöre zu den autochthonischen Ziegen, die in früheren Zeiten Jah geopfert wurden.

»Was machst du hier?« fragte Asher verblüfft. Etwas stimmte nicht, es war einfach unmöglich.

Hilf mir, dachte das Ziegengeschöpf. Ich bin dir hierher, bis zur Erde gefolgt.

»Du lügst!« Asher öffnete die Wagentür und griff nach der Taschenlampe. Er bückte sich und richtete den gelben Lichtstrahl auf das Tier.

Es war tatsächlich eine Ziege, aber keine gewöhnliche irdische Ziege - der Unterschied war deutlich zu erkennen.

Bitte nimm mich mit und kümmere dich um mich, telepathierte das Ziegenwesen. Ich habe mich verirrt. Ich bin meiner Mutter davongelaufen.

»Na schön.« Asher streckte die Arme aus, und die Ziege kam langsam auf ihn zu. Was für ein seltsames kleines, verhutzeltes Gesicht, dachte er, und diese scharfen kleinen Hufe. Es ist noch ein Baby, es zittert. Es muß ganz ausgehungert sein. Hier draußen wird es noch überfahren werden.

Danke, hörte er in seinem Kopf.

»Ich werde für dich sorgen«, sagte Asher.

Das Ziegenwesen dachte: Ich fürchte mich vor Jah. Er ist schrecklich in seinem Zorn.

Dann Bilder von Feuer, die Ziege, wie ihr die Kehle durchgeschnitten wurde. Asher fröstelte. Das Uropfer, die Opferung eines unschuldigen Tieres. Um den Zorn der Gottheit zu besänftigen.

»Bei mir bist du sicher.« Er nahm das Ziegenwesen in seine Arme. Das Bild, das es von Jah hatte, schockierte ihn. Es war eine entsetzliche Entität - diese mächtige und zornige Berggottheit, die die Opferung von kleinen Geschöpfen verlangte.

Wirst du mich vor Jah retten? jammerte das Ziegenwesen. Seine Gedanken strömten bittend auf Asher ein.

»Natürlich werde ich das.« Behutsam legte er das Ziegenwesen auf den Rücksitz.

Du wirst Jah nicht verraten, wo ich bin, oder?

»Das schwöre ich.«

Danke, dachte das Ziegenwesen. Asher spürte seine Freude. Und so etwas wie Triumph. Er wunderte sich darüber, während er sich hinter das Lenkrad setzte und den Motor anließ. Bedeutet dies für das Wesen eine Art Sieg? fragte er sich.

Ich bin nur froh, in Sicherheit zu sein, erklärte es jetzt. Und einen Beschützer gefunden zu haben. Hier auf diesem Planeten, wo es so viel Tod gibt.

Tod, dachte Asher. Es fürchtet sich vor dem Tod, wie ich mich vor dem Tod fürchte - wie ich ist es ein lebender Organismus. Obwohl es sich in vielerlei Hinsicht von mir unterscheidet.

Ich bin von zwei Kindern mißhandelt worden, telepathierte das Ziegenwesen. Einem Jungen und einem Mädchen.

Ein Bild erschien vor Ashers geistigem Auge: ein Kinderpaar mit wilden Gesichtern und feindselig funkelnden Augen. Dieser Junge und dieses Mädchen hatten das Ziegenwesen gequält, und es empfand Entsetzen bei der Vorstellung, ihnen noch einmal in die Hände zu fallen.

 »Das wird nicht geschehen«, sagte Asher. »Das verspreche ich. Kinder können furchtbar grausam zu Tieren sein.«

In seinem Kopf ertönte nun Lachen, Asher spürte die Fröhlichkeit des Ziegenwesens. Verwirrt drehte er sich um, um es anzusehen, doch in der Dunkelheit hinter ihm war es unsichtbar. Er fühlte es, dort auf dem Rücksitz, aber er konnte es nicht erkennen.  - Philip K. Dick, Die VALIS-Trilogie. München 2002 (zuerst 1981 f.)

 

Wesen Ziege

 

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