erstreutheit
bedeutet, will man ihr Wesen bestimmen, eine Art von Denkträgheit, die
sich im Reden und Handeln äußert.
Ein zerstreuter Mensch rechnet mit den Steinchen und zieht die Summe; anschließend fragt er einen, der müßig neben ihm sitzt: »Was kommt heraus?« In einen Prozeß verwickelt und gewillt, zum Termin zu erscheinen, vergißt er es und geht auf sein Feld. Beim Theaterbesuch bleibt er im Zuschauerraum als einziger schlafend zurück. Hat er reichlich gegessen ünd steht nachts auf, um den Abtritt aufzusuchen, verfehlt er den Weg und wird vom Hund des Nachbarn gebissen. Hat er etwas erhalten und selbst beiseite gelegt, muß er es suchen und kann es nicht finden. Wird ihm der Tod eines seiner Freunde gemeldet, mit der Aufforderung, er möge hingehen, macht er ein trauriges Gesicht, bricht in Tränen aus und sagt: »Aufrichtigen Glückwunsch!«
Erhält er Geld zurück, das man ihm schuldete, ist er fähig, Zeugen einzuladen. Zur Winterszeit kann er sich mit seinem Sklaven herumstreiten, weil dieser keine Gurken eingekauft habe. Seine Kinder nötigt er, miteinander zu ringen und um die Wette zu rennen, und hetzt sie auf diese Weise bis zur äußersten Erschöpfung. Kocht er auf seinem Landgut sich selber ein Linsengericht, streut er zweimal Salz in den Topf und macht das Essen ungenießbar. Läßt Zeus es regnen, preist er das liebliche Funkeln der Sterne; ist es sternklar, behauptet er: »Auch die anderen sagen es: Schwarz wie Pech ist die Nacht!«
Und wenn jemand fragt: »Wie viele Leichen wurden, nach deiner Meinung, zum
Heiligen Tore hinausgetragen?«, so gibt er ihm zur Antwort: »So viele, wie ich
mir und dir wünsche!« - (
theo
)
Zerstreutheit (2) Die eigentliche Zerstreutheit ist ein Versinken in ganz abstraktes Selbstgefühl, in eine Untätigkeit des besonnenen, objektiven Bewußtseins, in eine wissenlose Ungegenwart des Geistes bei solchen Dingen, bei welchen derselbe gegenwärtig sein sollte.
Das in diesem Zustande
befindliche Subjekt verwechselt im einzelnen Fall seine wahre Stellung mit
einer falschen
und faßt die äußeren Umstände auf eine einseitige
Weise, nicht nach der Totalität ihrer Beziehungen auf.
Ein
ergötzliches Beispiel von diesem Seelenzustande ist, unter vielen anderen
Beispielen, ein französischer Graf, der, als seine Perücke
am Kronleuchter hängenblieb, darüber mit den anderen Anwesenden
herzlich lachte
und sich umschaute, um zu entdecken, wessen Perücke
fortgerissen sei, wer mit kahlem Kopfe dastehe.
Ein anderes hierher gehöriges Beispiel liefert Newton; dieser Gelehrte soll einst den Finger einer Dame ergriffen haben, um denselben als Pfeifenstopfer zu gebrauchen.
Solche Zerstreutheit kann Folge von vielem Studieren sein; sie findet sich bei Gelehrten, zumal bei den einer früheren Zeit angehörenden, nicht selten.
Häufig entsteht die Zerstreutheit jedoch auch dann, wenn
Menschen sich überall ein hohes Ansehen geben wollen, folglich ihre
Subjektivität beständig vor Augen haben und darüber die Objektivität
vergessen. - G. W. F.
Hegel
Zerstreutheit (3) Ich liebe die
zerstreuten Menschen. Zerstreutheit ist ein Zeichen von Gedanken, von Güte.
Die dummen und bösartigen Menschen sind immer geistesgegenwärtig.
- (
lig
)
Zerstreutheit (4) Menalque
steigt die Treppe hinab, öffnet seine Haustür, um auszugehen und schließt sie
wieder hinter sich zu: da wird er gewahr, daß er die Nachtmütze noch auf hat;
er mustert sich genauer, merkt, daß er nur halb rasiert ist, daß er seinen Degen
an die rechte Seite geschnallt hat, daß seine Strümpfe ihm bis auf die Fersen
herabhängen und sein Hemd nicht in den Hosen steckt. Geht er über einen Platz,
so spürt er plötzlich einen kräftigen Schlag gegen den Magen oder ins Gesicht;
er begreift gar nicht, was das sein könne, bis er sich ermuntert, die Augen
aufschlägt und dicht vor sich eine Wagendeichsel oder eine lange Bohle entdeckt,
die ein Handwerker auf den Schultern trägt. Man hat einmal gesehen, wie er mit
der Stirn gegen den Kopf eines Blinden stieß, sich mit seinen Beinen in dessen
Beine verwickelte und wie schließlich beide rücklings zu Boden fielen. Mehr
als einmal ist es ihm begegnet, daß er unterwegs fast mit einem hohen Fürsten
zusammenrannte und gerade noch Fassung und Zeit genug fand, ihn an eine Hauswand
gepreßt vorüberzulassen. Er hat ständig etwas zu suchen, durcheinanderzuwerfen,
immerfort zu schreien, sich zu erhitzen, er ruft seine Bedienten herbei, einen
nach dem andern: man verliert ihm alles, man verlegt ihm alles; er fragt nach
seinen Handschuhen, die er in den Händen hält, gleich jener Frau, die in einem
fort nach ihrer Maske verlangte, die sie längst vor dem Gesicht trug. Er betritt
einen Saal im königlichen Schloß und geht unter einem Kronleuchter durch, seine
Perücke verhakt sich darin und bleibt hängen: alle
Hofleute sehen zu und lachen; auch Menalque schaut sich um, lacht noch lauter
als die andern und sucht in der Gesellschaft nach dem, dessen Ohren unbedeckt
sind und dem eine Perücke fehlt. Wenn er durch die Stadt geht und eine Weile
unterwegs ist, so glaubt er sich verirrt zu haben und fragt die Vorübergehenden
ganz aufgeregt, wo er sich befinde, und diese nennen ihm den Namen seiner eigenen
Straße; darauf tritt er in sein Haus ein, verläßt es aber eiligst wieder, weil
er glaubt, er sei fehlgegangen. Er steigt die große Treppe des Justizpalastes
hinab, sieht unten eine Karosse stehen, die er für die seinige hält, und steigt
hinein: der Kutscher setzt sein Pferd in Trab und glaubt, seinen Herrn nach
Hause zu fahren; Menalque stürzt aus dem Schlag, schreitet über den Hof, steigt
die Treppe hinauf, eilt durch das Vorzimmer, das Zimmer, gelangt ins Gemach;
alles ist ihm vertraut, nichts ist ihm fremd, er läßt sich nieder, er ruht sich
aus, er fühlt sich daheim; der Hausherr kommt, Menalque steht auf, um ihn zu
empfangen, läßt ihm alle Höflichkeit angedeihen, bittet ihn, Platz zu nehmen:
alles im Glauben, ihn in seinem Zimmer zu bewillkommnen; er spricht, träumt
vor sich hin, ergreift von neuem das Wort; dem Hausherrn wird die Sache langweilig,
er ist verwundert;Menalque nicht weniger, doch sagt er nicht, was er denkt:
er hat es eben mit einem lästigen Menschen zu tun, einem Müßiggänger, der sich
am Ende wohl entfemen wird; er hofit es wenigstens und faßt sich in Geduld;
es wird Abend und er hat seinen Irrtum noch kaum begriffen. Ein andermal macht
er einer Dame seinen Besuch, und da er sich bald einbildet, sie sei bei ihm
zu Gast, so macht er es sich in ihrem Sessel bequem und denkt gar nicht an Aufstehen;
mit der Zeit findet er, daß die Dame ihre Besuche sehr lange ausdehne und erwartet
Jeden Augenblick, daß sie sich erheben und ihm endlich seine Ruhe lassen werde;
da die Sache aber kein Ende nehmen will, da er Hunger bekommt und die Nacht
schon vorgerückt ist, so lädt er sie zum Abendessen ein; da lacht sie so laut
auf, daß er aus seiner Zerstreutheit erwacht. Derselbe Menalque heiratet am
Morgen, hat es aber am Abend schon wieder vergessen und schläft in der Hochzeitsnacht
außer Hause; einige Jahre später verliert er seine Frau; sie stirbt in seinen
Armen, er wohnt dem Leichenbegängnis bei; und tags darauf, als man ihm meldet,
daß das Essen angerichtet sei, fragt er, ob man es seiner Frau schon gesagt
habe. Ihm stößt es auch zu, daß er beim Betreten der Kirche den Blinden am Portal
für einen Pfeiler und seinen Almosenbecher für eine Weihwasserschale hält, seine
Hand hineintaucht und sie zur Stirne führt, bis er mit einem Male den Pfeiler
reden und ihm Gebete anbieten hört; er schreitet weiter ins Schiff der Kirche
vor, glaubt einen Betstuhl vor sich zu haben und wirft sich mit seinem ganzen
Gewicht darauf; das Gebilde gibt nach, sinkt in sich zusammen und stöhnt; zu
seiner großen Überraschung bemerkt Menalque, daß er aufden Beinen eines winzigen
Menschen kniet, die Ellbogen auf dessen Rücken gestützt, die Arme um seine Schultern
gelegt, die Hände vor Nase und Mund gefaltet, so daß der Ärmste nicht atmen
noch schreien kann: verwirrt entfernt er sich, um anderswo niederzuknien; er
zieht ein Buch hervor, um seine Andacht zu verrichten, und siehe da, es ist
sein Pantoffel, den er beim Weggehen für sein Gebetbuch
gehalten und in die Tasche gesteckt hat; aber er ist noch nicht aus der Kirche
heraus, als ein Lakai ihm nacheilt, ihn einholt und ihn lachend fragt, ob er
nicht vielleicht den Hausschuh des hochwürdigen Herrn Bischofs
bei sich trage; Menalque zeigt ihm den seinigen und sagt: »Das sind alle Pantoffeln,
die ich bei mir habe!« Gleichwohl kramt er in seinen Taschen und zieht endlich
den Hausschuh des Bischofs von ** hervor, den er soeben besucht, krank am Kaminfeuer
getroffen und dessen Pantoffel er beim Abschied ergriffen hatte, statt eines
Handschuhs, der ihm zur Erde gefallen war; so kommt Menalque um einen Pantoffel
erleichtert nach Hause. Einmal verliert er im Spiel alles Geld, das er in der
Börse hat; und da er weiterspielen möchte, geht er in sein Gemach, öfihet einen
Schrank, ergreift seine Schatulle, nimmt heraus, was er braucht und stellt sie
wieder zurück: so meint er wenigstens; doch auf einmal hört er in dem Schrank,
den er soeben verschlossen hat, ein Gebell; voll Erstaunen über dieses Wunder
öffnet er ihn abermals und bricht in helles Gelächter aus, als er seinen Hund
erblickt, den er statt der Schatulle weggeschlossen hatte. Er sitzt beim Tricktrack,
er verlangt zu trinken, man bringt ihm etwas; die Reihe ist an ihm, zu spielen,
er hält den Becher in der einen, das Glas in der andern Hand, und da er heftigen
Durst hat, so verschluckt er die Würfel und fast den Becher mit, schüttet das
Glas Wasser auf das Tricktrackbrett und durchnäßt seinen Mitspieler; und in
der Behausung von guten Bekannten spuckt er aufs Bett
und wirft seinen Hut auf die Erde, während er grade das Umgekehrte zu tun glaubt.
Er nimmt an einer Lustpartie zu Wasser teil und fragt, wie spät es sei; man
reicht ihm eine Uhr; kaum hat er sie in Händen, denkt er schon nicht mehr an
Zeit und Uhr und wirft sie wie einen lästigen Gegenstand in den Fluß. Oder er
schreibt einen langen Brief, schüttet mehrmals Streusand darüber und gießt den
Streusand immer ins Tintenfaß; damit nicht genug, schreibt er einen zweiten
Brief, versiegelt beide, verwechselt aber die Adressen; ein Herzog und Pair
des Königreichs empfängt den einen Brief, öffnet ihn und liest die folgenden
Worte: »Lieber Meister Olivier, schickt mir unbedingt gleich nach Empfang dieser
Zeilen meinen Anteil Heu ..« Sein Pächter erhält den andern; er macht ihn auf
und läßt ihn sich vorlesen; darin steht: »Durchlaucht, mit blinder Unterwürfigkeit
habe ich die Befehle empfangen, welche Ew. Gnaden geruht haben. .« Er schreibt
nachts noch einen Brief; nachdem er ihn gesiegelt, löscht er seine Kerze aus,
ist höchlichst verwundert, daß es plötzlich stöckfinster ist, und begreift kaum,
wie das zugegangen. Menalque steigt die Treppe des Louvre hinab, ein andrer
kommt ihm entgegen; er stürzt auf ihn zu und sagt zu ihm: »Gerade Sie suche
ich!« Er nimmt ihn bei der Hand, läßt ihn die Treppe wieder mit hinuntersteigen,
geht mit ihm durch Höfe und Säle, hinaus, hinein, hin und wieder; endlich betrachtet
er seinen Begleiter, den er seit einer Viertelstunde mit sich herumschleppt,
genauer und ist ganz erstaunt, daß es ein anderer ist, als er meinte; diesem
hat er nichts zu sagen, läßt seine Hand los und entfernt sich. Oft richtet er
eine Frage an euch; doch wenn ihr ihm antworten wollt, ist er schon über alle
Berge; oder er erkundigt sich im Vorübereilen nach dem Befinden eures Vaters,
und wenn ihr ihm erzählt, es gehe ihm gar nicht gut, so sagt er, das freue ihn
zu hören; wieder ein andermal begegnet er euch auf der Straße: er sei entzückt,
euch zu treffen; eben komme er von euch wegen einer Sache, die er besprechen
wollte, dabei betrachtet er eure Hand und sagt: »Was haben Sie für einen schönen
Rubin! Ist es ein Ballas?« Dann geht er seiner Wege: Das ist die wichtige Angelegenheit,
über die er mit euch zu reden hatte. Wenn er auf dem Lande weilt, so sagt er
wohl zu jemandem, er schätze ihn glücklich, daß er sich den Herbst über dem
Hof habe entziehen können und die ganze Fontainebleau-Zeit auf seinen Gutem
zugebracht habe; dann redet er mit andern über andere Dinge, wendet sich wieder
dem ersten zu und sagt: »Sie werden in Fontainebleau schöne Tage verlebt haben;
gewiß waren Sie viel auf der Jagd!« Darauf fängt er an, eine Geschichte zu erzählen,
vergißt sie aber zu beenden, lacht in sich hinein, lacht laut über etwas, was
ihm gerade durch den Kopf geht, gibt sich auf seine eigenen Gedanken Antwort,
summt eine Melodie, pfeift, wirft sich in einen Stuhl, rekelt sich geräuschvoll,
gähnt, kurz, er glaubt sich allein. Sitzt er an der Tafel, so häuft sich das
Brot unmerklich auf seinem Teller; natürlich auf Kosten seiner Tischnachbam,
die er auch nicht lange im Besitz von Messer und Gabel läßt. Den Schöpflöffel,
wie er Jetzt zur bequemeren Bedienung üblich ist, ergreift er, taucht ihn in
die Schüssel, bis er eben voll ist, führt ihn zum Munde und kann sich nicht
genug wundem, daß ihm die Suppe, die er doch hinuntergeschluckt hat, über Wäsche
und Kleider fließt. Er vergißt das Trinken während der ganzen Mahlzeit; oder
es fällt ihm ein, er findet, daß man ihm zuviel Wein eingeschenkt habe, und
gießt seinem Nachbarn zur Rechten gut die Hälfte übers Gesicht; den Rest trinkt
er ruhig aus und begreift nicht, warum alle Welt darüber in Lachen ausbricht,
daß er auf die Erde schüttet, was man ihm zuviel eingegossen hat. Eines Tages
muß erwegen einer Unpäßlichkeit das Bett hüten; man stattet ihm Krankenbesuche
ab; ein Kreis von Herren und Damen unterhält sich mit ihm in seinem Schlafgemach,
und in ihrer Gegenwart lüftet er seine Decke und spuckt in sein Laken. Er besichtigt
im Karthäuserkloster einen Kreuzgang, der mit Gemälden eines bedeutenden Künstlers
geschmückt ist; der Mönch, der ihm Erklärungen
dazu gibt, spricht vom heiligen Bruno, dem Stiftsherm und seinem Scheintod,
erzählt eine lange Geschichte darüber und erläutert sie ihm auf einem der Bilder:
Menalque, dessen Gedanken während dieses Berichts in weiter Feme weilten, besinnt
sich schließlich wieder, wo er ist, und fragt den Pater, ob der Kanonikus oder
der heilige Bruno verdammt sei. Er ist einmal in Gesellschaft einer Jungen Witwe,
spricht mit ihr von ihrem verstorbenen Mann und fragt sie, wie er gestorben
sei; die Frau, die bei diesem Gespräch ihr Leid erneut empfindet, weint, schluchzt
und kann es nicht lassen, die Krankheit ihres Gatten in allen Einzelheiten zu
schildern, vom Tage vor dem Ausbruch des Fiebers, wo er sich noch wohl befand,
bis zu seinem Todeskampf. »Madame«, fragt darauf Menalque, der ihr scheinbar
aufmerksam zuhörte, »hatten Sie nur diesen Mann?« Eines Morgens fällt es ihm
ein, seinen Koch zur Eile anzuhalten, er steht vom Tisch auf, bevor noch das
Obst gereicht ist, und empfiehlt sich; am selben Tage kann man ihn überall in
der Stadt sehen, nur nicht an der Stelle, wo er sich wegen eben der Angelegenheit
verabredet hat, die ihn veranlaßte, sich mitten im Essen zu erheben und sogar
zu Fuß zu gehen, damit er nur Ja nicht aufseine Karosse zu warten brauchte.
Hört ihr, wie er auf einen Diener schilt und in helle Wut gerät? Er begreift
nicht, wo er sein mag: »Wo steckt er?« fragt er, »was treibt er denn, was ist
nur mit ihm? Er soll sich nicht vor mir blicken lassen, ich jage ihn auf der
Stelle fort!« Endlich erscheint der Diener, er fragt ihn kurz und herrisch,
wo er herkomme; dieser erwidert ihm, er habe eben den Auftrag ausgerichtet,
den er ihm gegeben, und bestellt ihm getreulich die Antwort. Man könnte ihn
oft für etwas halten, was er gar nicht ist: für schwachsinnig, denn er hört
euch nicht und antwortet noch viel weniger; für närrisch, denn nicht genug damit,
daß er oft mit sich selber spricht, verzerrt er sein Gesicht und macht unbeherrschte
Kopfbewegungen; für stolz und unhöflich, denn wenn ihr ihn grüßt, so geht er
an euch vorüber, ohne euch zu beachten, oder er sieht euch an, ohne den Gruß
zu erwidern; für unüberlegt, denn er spricht von Bankrott in einer Familie,
die mit diesem Makel behaftet ist, von Hinrichtung
und Schafott vor einem Manne, dessen Vater es bestiegen hat, von Emporkömmlingen
vor Bürgerlichen, welche reich sind und für adlig gelten wollen. Er hat die
Absicht, einen unehelichen Sohn unter fremdem Namen als Diener im eigenen Hause
großzuziehen; Frau und Kinder sollen nichts davon erfahren, aber es vergeht
kein Tag, ohne daß er ihn zehnmal seinen Sohn nennt; er hat auch beschlossen,
einen seiner Söhne mit der Tochter eines Geschäftsmanns zu verheiraten, und
doch kann er es nicht lassen, wenn er von seiner Familie und seihen Vorfahren
spricht, immer wieder zu betonen, daß kein Menalque sich unter seinem Stand
verheiratet habe. In Gesellschaft ist er immer abwesend und achtet nie auf den
Gegenstand der Unterhaltung; er denkt und spricht zu gleicher Zeit, aber das,
worüber er redet, ist selten das, woran er denkt; darum spricht er auch meist
ohne Sinn und Zusammenhang; wo er nein sagt, muß man oft ein Ja setzen, und
wo er Ja sagt, hat er sicher nein sagen wollen; während er euch so treffend
antwortet, hat er die Augen weit offen; aber er schaut nicht damit, er sieht
weder euch, noch irgendwen, noch irgend etwas auf der Welt; was ihr, selbst
in Augenblicken, wo er zur Unterhaltung aufgelegt und mitteilsam ist, aus ihm
herausbringen könnt, sind die Worte: »Ja wahrhaftig. Richtig! Gut! Wirklich?
Ja freilich! Ich denke wohl. Ganz gewiß. Du lieber Himmel!« und andere Ausrufe
dieser Art, die er nicht einmal an der rechten Stelle anzubringen weiß. Die
Leute, mit denen er zusammen ist, hält er immer für das Gegenteil von dem, was
sie sind: er redet seinen Bedienten mit der ernstesten Miene Monsieur an, seinen
Freund nennt er dafür la Verdure; zu einem Prinzen von Geblüt sagt er Hochwürden,
und Durchlaucht zu einem Jesuitenpater. Er hört die Messe, der Priester muß
niesen, und er sagt zu ihm: »Gott helf Euch!« Ein Ratsherr, ein Mann von ernstem
Charakter, ehrwürdig durch Alter und Amt, befragt ihn über ein Ereignis und
erkundigt sich bei ihm, ob es sich so verhalte; Menalque erwidert ihm: »Ja,
mein Fräulein.« Als er einmal vom Lande zurückkehrt, fassen seine Bedienten
den Plan, ihn zu berauben, und führen ihn aus: sie steigen von der Kutsche,
setzen ihm das Ende einer Fackel auf die Brust, fordern ihm seine Börse ab,
und er gibt sie ihnen. Zu Hause angekommen, erzählt er sein Abenteuer den Freunden;
diese verfehlen nicht, sich nach den näheren Umständen zu erkundigen, und er
antwortet ihnen: »Fragt meine Leute, die waren dabei.«
- (
bru
)
Zerstreutheit (5) Die
Überlegung hilft dem Gedächtnis, indem sie das von diesem gesammelte Material
ordnet, so daß in einem systematisierten Gedächtnis jeder Begriff gewöhnlich
alle möglichen Folgerungen nach sich zieht. Allerdings leugne ich nicht, daß
sowohl das Gedächtnis wie auch die Überlegung nur für eine bestimmte Zahl von
Begriffen wirksam angewandt werden können. Ich zum Beispiel habe glänzend alles
behalten, was ich von den exakten Wissenschaften der Menschheits- und Naturgeschichte
gelernt habe, während ich andererseits das augenblickliche Verhältnis zu den
mich umgebenden Gegenständen oft vergesse, deutlicher gesagt: ich sehe Dinge
nicht, die vor meinen Augen liegen, und höre Worte nicht, die man mir oftmals
ins Ohr schreit. Daher kommt es, daß mich einige für zerstreut halten.
- (
sar
)
Zerstreutheit (6) Pnin,
das vor allem muß betont werden, war alles andere als die Verkörperung jener
gutmütigen deutschen Platitüde des vergangenen Jahrhunderts, eines zerstreuten
Professors. Im Gegenteil, er war vielleicht zu wachsam,
zu beständig auf der Suche nach teuflischen Fallgruben, zu ängstlich auf der
Hut, daß ihn seine erratische Umwelt (das unberechenbare Amerika)
ja nicht zu irgendeinem furchtbaren Versehen verleite. Die Welt war es, die
zerstreut war, und es war Pnins Sache, sie wieder einzurenken. Sein Leben war
ein unablässiger Kampf mit leblosen Dingen, die entzweigingen oder ihn attackierten
oder nicht funktionieren wollten oder tückisch abhanden kamen, sobald sie in
seine Lebenssphäre gerieten. Mit den Händen war er in ungewöhnlichem Maße ungeschickt;
doch da er aus einer Erbsenschote im Nu eine Ein-Ton-Mundharmonika basteln,
einen flachen Kieselstein zehnmal über die Oberfläche eines stillen Teichs hüpfen
lassen und mit seinen Handknochen das Schattenbild eines Kaninchens (samt blinzelndem
Auge) werfen und eine Reihe jener anderen harmlosen Tricks vollführen konnte,
die Russen in petto zu haben pflegen, glaubte er selber sich mit beträchtlichem
manuellem und mechanischem Geschick ausgestattet. Technischem Krimskrams war
er mit einer Art benommenem, abergläubischem Entzücken zugetan. Elektrische
Apparaturen bezauberten ihn. Von Plastik war er ganz und gar hingerissen. Tiefe
Bewunderung hegte er für den Reißverschluß. Doch die ehrfürchtig in die Steckdose
gesteckte Uhr brachte seinen Morgen durcheinander, wenn mitten in der Nacht
ein Gewitter das nächste Kraftwerk lahmgelegt hatte. Sein Brillengestell brach
an der Brücke und ließ ihn mit zwei identischen Teilen zurück, die er auf unbestimmte
Weise wiederzuvereinen suchte, vielleicht in der Hoffnung, daß ihm irgendein
organisches Restaurierungswunder zu Hilfe kommen würde. Der Reißverschluß, auf
den ein Gentleman am meisten angewiesen ist, löste sich in einem Alptraumaugenblick
der Eile und Verzweiflung unter seiner perplexen Hand. - Vladimir Nabokov, Pnin. Reinbek bei Hamburg 2004
(zuerst 1957)
Zerstreutheit (7)
Zerstreutheit (8) Man könnte sich einen Selbstmord aus Zerstreutheit vorstellen, der kaum von einem Unfall zu unterscheiden wäre.
Ein Mann handhabt eine Pistole und weiß, daß sie geladen ist. Er hat weder Lust noch die Absicht sich zu töten. Aber er ergreift die Waffe mit Vergnügen, seine Handfläche umfaßt den Kolben, sein Zeigefinger unischließt den Abzugbügel mit einer Art von Wollust. Er stellt sich die Handlung vor. Allmählich wird er zum Sklaven der Waffe. Sie bringt ihren Besitzer in Versuchung. Beiläufig richtet er die Mündung gegen sich. Er nähert sie seiner Schläfe, dann seinen Zähnen. Nun ist er beinah in Gef ahr, weil der Gedanke an das Funktionieren, der Zwang einer vom Körper entworfenen und vom Geist vollzogenen Handlung ihn übermannt. Der Kreislauf des Impulses strebt sich zu schließen. Das Nervensystem erzeugt sich selber eine geladene Pistole, und der Finger will sich plötzlich krümmen.
Eine kostbare Vase am Rand eines Tisches; ein Mann, der auf einer Brüstung
steht, befinden sich in vollkommenem Gleichgewicht. Und doch sähen wir sie
lieber etwas weiter von der Senkrechten des leeren Raumes entfernt. Wir haben
die peinigende Empfindung, wie wenig es braucht, um das Schicksal des Menschen
oder des Dinges zu beschleunigen. Dies Wenige — wird es dem fehlen, dessen Hand
bewaffnet ist? Falls er sich vergißt, der Schuß ihm entfährt, der Gedanke an
die Handlung siegt und sich verwirklicht, bevor er die Bremsvorrichtung ausgelöst
und die Selbstbeherrschung wieder erlangt hat — dürfen wir dann, was daraus
folgt, einen Selbstmord aus Unachtsamkeit nennen? Das Opfer hat es geschehen
lassen, und sein Tod ist ihm wie ein unüberlegtes Wort entfahren. Unmerklich
hat es sich in eine gefährliche Zone seines Willensbereichs vorgewagt. Seine
Willfährigkeit gegen irgendwelche Tast- und Machtgefühle hat es in ein Gebiet
geführt, wo die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe sehr groß ist. Es hat sich
einem Lapsus, einem geringfügigen Vorfall des Gewissens oder der Übertragung
anheimgegeben. Es tötet sich, weil es allzu leicht war, sich zu töten. - (pval)
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