erstreutheit  bedeutet, will man ihr Wesen bestimmen, eine Art von Denkträgheit, die sich im Reden und Handeln äußert.

Ein zerstreuter Mensch rechnet mit den Steinchen und zieht die Summe; anschließend fragt er einen, der müßig neben ihm sitzt: »Was kommt heraus?« In einen Prozeß verwickelt und gewillt, zum Termin zu erscheinen, vergißt er es und geht auf sein Feld. Beim Theaterbesuch bleibt er im Zuschauerraum als einziger schlafend zurück. Hat er reichlich gegessen ünd steht nachts auf, um den Abtritt  aufzusuchen, verfehlt er den Weg und wird vom Hund des Nachbarn gebissen. Hat er etwas erhalten und selbst beiseite gelegt, muß er es suchen und kann es nicht finden. Wird ihm der Tod eines seiner Freunde gemeldet, mit der Aufforderung, er möge hingehen, macht er ein trauriges Gesicht, bricht in Tränen aus und sagt: »Aufrichtigen Glückwunsch!«

Erhält er Geld zurück, das man ihm schuldete, ist er fähig, Zeugen einzuladen. Zur Winterszeit kann er sich mit seinem Sklaven herumstreiten, weil dieser keine Gurken eingekauft habe. Seine Kinder nötigt er, miteinander zu ringen und um die Wette zu rennen, und hetzt sie auf diese Weise bis zur äußersten Erschöpfung. Kocht er auf seinem Landgut sich selber ein Linsengericht, streut er zweimal Salz in den Topf und macht das Essen ungenießbar. Läßt Zeus es regnen, preist er das liebliche Funkeln der Sterne; ist es sternklar, behauptet er: »Auch die anderen sagen es: Schwarz wie Pech ist die Nacht

Und wenn jemand fragt: »Wie viele Leichen wurden, nach deiner Meinung, zum Heiligen Tore hinausgetragen?«, so gibt er ihm zur Antwort: »So viele, wie ich mir und dir wünsche!« - (theo)

Zerstreutheit (2) Die eigentliche Zerstreutheit ist ein Versinken in ganz abstraktes Selbstgefühl, in eine Untätigkeit des besonnenen, objektiven Bewußtseins, in eine wissenlose Ungegenwart des Geistes bei solchen Dingen, bei welchen derselbe gegenwärtig sein sollte.

Das in diesem Zustande befindliche Subjekt verwechselt im einzelnen Fall seine wahre Stellung mit einer falschen
und faßt die äußeren Umstände auf eine einseitige Weise, nicht nach der Totalität ihrer Beziehungen auf.

Ein ergötzliches Beispiel von diesem Seelenzustande ist, unter vielen anderen Beispielen, ein französischer Graf, der, als seine Perücke am Kronleuchter hängenblieb, darüber mit den anderen Anwesenden herzlich lachte
und sich umschaute, um zu entdecken, wessen Perücke fortgerissen sei, wer mit kahlem Kopfe dastehe.

Ein anderes hierher gehöriges Beispiel liefert Newton; dieser Gelehrte soll einst den Finger einer Dame ergriffen haben, um denselben als Pfeifenstopfer zu gebrauchen.

Solche Zerstreutheit kann Folge von vielem Studieren sein; sie findet sich bei Gelehrten, zumal bei den einer früheren Zeit angehörenden, nicht selten.

Häufig entsteht die Zerstreutheit jedoch auch dann, wenn Menschen sich überall ein hohes Ansehen geben wollen, folglich ihre Subjektivität beständig vor Augen haben und darüber die Objektivität vergessen. - G. W. F. Hegel

Zerstreutheit (3) Ich liebe die zerstreuten Menschen. Zerstreutheit ist ein Zeichen von Gedanken, von Güte. Die dummen und bösartigen Menschen sind immer geistesgegenwärtig. - (lig)

Zerstreutheit (4) Menalque steigt die Treppe hinab, öffnet seine Haustür, um auszugehen und schließt sie wieder hinter sich zu: da wird er gewahr, daß er die Nachtmütze noch auf hat; er mustert sich genauer, merkt, daß er nur halb rasiert ist, daß er seinen Degen an die rechte Seite geschnallt hat, daß seine Strümpfe ihm bis auf die Fersen herabhängen und sein Hemd nicht in den Hosen steckt. Geht er über einen Platz, so spürt er plötzlich einen kräftigen Schlag gegen den Magen oder ins Gesicht; er begreift gar nicht, was das sein könne, bis er sich ermuntert, die Augen aufschlägt und dicht vor sich eine Wagendeichsel oder eine lange Bohle entdeckt, die ein Handwerker auf den Schultern trägt. Man hat einmal gesehen, wie er mit der Stirn gegen den Kopf eines Blinden stieß, sich mit seinen Beinen in dessen Beine verwickelte und wie schließlich beide rücklings zu Boden fielen. Mehr als einmal ist es ihm begegnet, daß er unterwegs fast mit einem hohen Fürsten zusammenrannte und gerade noch Fassung und Zeit genug fand, ihn an eine Hauswand gepreßt vorüberzulassen. Er hat ständig etwas zu suchen, durcheinanderzuwerfen, immerfort zu schreien, sich zu erhitzen, er ruft seine Bedienten herbei, einen nach dem andern: man verliert ihm alles, man verlegt ihm alles; er fragt nach seinen Handschuhen, die er in den Händen hält, gleich jener Frau, die in einem fort nach ihrer Maske verlangte, die sie längst vor dem Gesicht trug. Er betritt einen Saal im königlichen Schloß und geht unter einem Kronleuchter durch, seine Perücke verhakt sich darin und bleibt hängen: alle Hofleute sehen zu und lachen; auch Menalque schaut sich um, lacht noch lauter als die andern und sucht in der Gesellschaft nach dem, dessen Ohren unbedeckt sind und dem eine Perücke fehlt. Wenn er durch die Stadt geht und eine Weile unterwegs ist, so glaubt er sich verirrt zu haben und fragt die Vorübergehenden ganz aufgeregt, wo er sich befinde, und diese nennen ihm den Namen seiner eigenen Straße; darauf tritt er in sein Haus ein, verläßt es aber eiligst wieder, weil er glaubt, er sei fehlgegangen. Er steigt die große Treppe des Justizpalastes hinab, sieht unten eine Karosse stehen, die er für die seinige hält, und steigt hinein: der Kutscher setzt sein Pferd in Trab und glaubt, seinen Herrn nach Hause zu fahren; Menalque stürzt aus dem Schlag, schreitet über den Hof, steigt die Treppe hinauf, eilt durch das Vorzimmer, das Zimmer, gelangt ins Gemach; alles ist ihm vertraut, nichts ist ihm fremd, er läßt sich nieder, er ruht sich aus, er fühlt sich daheim; der Hausherr kommt, Menalque steht auf, um ihn zu empfangen, läßt ihm alle Höflichkeit angedeihen, bittet ihn, Platz zu nehmen: alles im Glauben, ihn in seinem Zimmer zu bewillkommnen; er spricht, träumt vor sich hin, ergreift von neuem das Wort; dem Hausherrn wird die Sache langweilig, er ist verwundert;Menalque nicht weniger, doch sagt er nicht, was er denkt: er hat es eben mit einem lästigen Menschen zu tun, einem Müßiggänger, der sich am Ende wohl entfemen wird; er hofit es wenigstens und faßt sich in Geduld; es wird Abend und er hat seinen Irrtum noch kaum begriffen. Ein andermal macht er einer Dame seinen Besuch, und da er sich bald einbildet, sie sei bei ihm zu Gast, so macht er es sich in ihrem Sessel bequem und denkt gar nicht an Aufstehen; mit der Zeit findet er, daß die Dame ihre Besuche sehr lange ausdehne und erwartet Jeden Augenblick, daß sie sich erheben und ihm endlich seine Ruhe lassen werde; da die Sache aber kein Ende nehmen will, da er Hunger bekommt und die Nacht schon vorgerückt ist, so lädt er sie zum Abendessen ein; da lacht sie so laut auf, daß er aus seiner Zerstreutheit erwacht. Derselbe Menalque heiratet am Morgen, hat es aber am Abend schon wieder vergessen und schläft in der Hochzeitsnacht außer Hause; einige Jahre später verliert er seine Frau; sie stirbt in seinen Armen, er wohnt dem Leichenbegängnis bei; und tags darauf, als man ihm meldet, daß das Essen angerichtet sei, fragt er, ob man es seiner Frau schon gesagt habe. Ihm stößt es auch zu, daß er beim Betreten der Kirche den Blinden am Portal für einen Pfeiler und seinen Almosenbecher für eine Weihwasserschale hält, seine Hand hineintaucht und sie zur Stirne führt, bis er mit einem Male den Pfeiler reden und ihm Gebete anbieten hört; er schreitet weiter ins Schiff der Kirche vor, glaubt einen Betstuhl vor sich zu haben und wirft sich mit seinem ganzen Gewicht darauf; das Gebilde gibt nach, sinkt in sich zusammen und stöhnt; zu seiner großen Überraschung bemerkt Menalque, daß er aufden Beinen eines winzigen Menschen kniet, die Ellbogen auf dessen Rücken gestützt, die Arme um seine Schultern gelegt, die Hände vor Nase und Mund gefaltet, so daß der Ärmste nicht atmen noch schreien kann: verwirrt entfernt er sich, um anderswo niederzuknien; er zieht ein Buch hervor, um seine Andacht zu verrichten, und siehe da, es ist sein Pantoffel, den er beim Weggehen für sein Gebetbuch gehalten und in die Tasche gesteckt hat; aber er ist noch nicht aus der Kirche heraus, als ein Lakai ihm nacheilt, ihn einholt und ihn lachend fragt, ob er nicht vielleicht den Hausschuh des hochwürdigen Herrn Bischofs bei sich trage; Menalque zeigt ihm den seinigen und sagt: »Das sind alle Pantoffeln, die ich bei mir habe!« Gleichwohl kramt er in seinen Taschen und zieht endlich den Hausschuh des Bischofs von ** hervor, den er soeben besucht, krank am Kaminfeuer getroffen und dessen Pantoffel er beim Abschied ergriffen hatte, statt eines Handschuhs, der ihm zur Erde gefallen war; so kommt Menalque um einen Pantoffel erleichtert nach Hause. Einmal verliert er im Spiel alles Geld, das er in der Börse hat; und da er weiterspielen möchte, geht er in sein Gemach, öfihet einen Schrank, ergreift seine Schatulle, nimmt heraus, was er braucht und stellt sie wieder zurück: so meint er wenigstens; doch auf einmal hört er in dem Schrank, den er soeben verschlossen hat, ein Gebell; voll Erstaunen über dieses Wunder öffnet er ihn abermals und bricht in helles Gelächter aus, als er seinen Hund erblickt, den er statt der Schatulle weggeschlossen hatte. Er sitzt beim Tricktrack, er verlangt zu trinken, man bringt ihm etwas; die Reihe ist an ihm, zu spielen, er hält den Becher in der einen, das Glas in der andern Hand, und da er heftigen Durst hat, so verschluckt er die Würfel und fast den Becher mit, schüttet das Glas Wasser auf das Tricktrackbrett und durchnäßt seinen Mitspieler; und in der Behausung von guten Bekannten spuckt er aufs Bett und wirft seinen Hut auf die Erde, während er grade das Umgekehrte zu tun glaubt. Er nimmt an einer Lustpartie zu Wasser teil und fragt, wie spät es sei; man reicht ihm eine Uhr; kaum hat er sie in Händen, denkt er schon nicht mehr an Zeit und Uhr und wirft sie wie einen lästigen Gegenstand in den Fluß. Oder er schreibt einen langen Brief, schüttet mehrmals Streusand darüber und gießt den Streusand immer ins Tintenfaß; damit nicht genug, schreibt er einen zweiten Brief, versiegelt beide, verwechselt aber die Adressen; ein Herzog und Pair des Königreichs empfängt den einen Brief, öffnet ihn und liest die folgenden Worte: »Lieber Meister Olivier, schickt mir unbedingt gleich nach Empfang dieser Zeilen meinen Anteil Heu ..« Sein Pächter erhält den andern; er macht ihn auf und läßt ihn sich vorlesen; darin steht: »Durchlaucht, mit blinder Unterwürfigkeit habe ich die Befehle empfangen, welche Ew. Gnaden geruht haben. .« Er schreibt nachts noch einen Brief; nachdem er ihn gesiegelt, löscht er seine Kerze aus, ist höchlichst verwundert, daß es plötzlich stöckfinster ist, und begreift kaum, wie das zugegangen. Menalque steigt die Treppe des Louvre hinab, ein andrer kommt ihm entgegen; er stürzt auf ihn zu und sagt zu ihm: »Gerade Sie suche ich!« Er nimmt ihn bei der Hand, läßt ihn die Treppe wieder mit hinuntersteigen, geht mit ihm durch Höfe und Säle, hinaus, hinein, hin und wieder; endlich betrachtet er seinen Begleiter, den er seit einer Viertelstunde mit sich herumschleppt, genauer und ist ganz erstaunt, daß es ein anderer ist, als er meinte; diesem hat er nichts zu sagen, läßt seine Hand los und entfernt sich. Oft richtet er eine Frage an euch; doch wenn ihr ihm antworten wollt, ist er schon über alle Berge; oder er erkundigt sich im Vorübereilen nach dem Befinden eures Vaters, und wenn ihr ihm erzählt, es gehe ihm gar nicht gut, so sagt er, das freue ihn zu hören; wieder ein andermal begegnet er euch auf der Straße: er sei entzückt, euch zu treffen; eben komme er von euch wegen einer Sache, die er besprechen wollte, dabei betrachtet er eure Hand und sagt: »Was haben Sie für einen schönen Rubin! Ist es ein Ballas?« Dann geht er seiner Wege: Das ist die wichtige Angelegenheit, über die er mit euch zu reden hatte. Wenn er auf dem Lande weilt, so sagt er wohl zu jemandem, er schätze ihn glücklich, daß er sich den Herbst über dem Hof habe entziehen können und die ganze Fontainebleau-Zeit auf seinen Gutem zugebracht habe; dann redet er mit andern über andere Dinge, wendet sich wieder dem ersten zu und sagt: »Sie werden in Fontainebleau schöne Tage verlebt haben; gewiß waren Sie viel auf der Jagd!« Darauf fängt er an, eine Geschichte zu erzählen, vergißt sie aber zu beenden, lacht in sich hinein, lacht laut über etwas, was ihm gerade durch den Kopf geht, gibt sich auf seine eigenen Gedanken Antwort, summt eine Melodie, pfeift, wirft sich in einen Stuhl, rekelt sich geräuschvoll, gähnt, kurz, er glaubt sich allein. Sitzt er an der Tafel, so häuft sich das Brot unmerklich auf seinem Teller; natürlich auf Kosten seiner Tischnachbam, die er auch nicht lange im Besitz von Messer und Gabel läßt. Den Schöpflöffel, wie er Jetzt zur bequemeren Bedienung üblich ist, ergreift er, taucht ihn in die Schüssel, bis er eben voll ist, führt ihn zum Munde und kann sich nicht genug wundem, daß ihm die Suppe, die er doch hinuntergeschluckt hat, über Wäsche und Kleider fließt. Er vergißt das Trinken während der ganzen Mahlzeit; oder es fällt ihm ein, er findet, daß man ihm zuviel Wein eingeschenkt habe, und gießt seinem Nachbarn zur Rechten gut die Hälfte übers Gesicht; den Rest trinkt er ruhig aus und begreift nicht, warum alle Welt darüber in Lachen ausbricht, daß er auf die Erde schüttet, was man ihm zuviel eingegossen hat. Eines Tages muß erwegen einer Unpäßlichkeit das Bett hüten; man stattet ihm Krankenbesuche ab; ein Kreis von Herren und Damen unterhält sich mit ihm in seinem Schlafgemach, und in ihrer Gegenwart lüftet er seine Decke und spuckt in sein Laken. Er besichtigt im Karthäuserkloster einen Kreuzgang, der mit Gemälden eines bedeutenden Künstlers geschmückt ist; der Mönch, der ihm Erklärungen dazu gibt, spricht vom heiligen Bruno, dem Stiftsherm und seinem Scheintod, erzählt eine lange Geschichte darüber und erläutert sie ihm auf einem der Bilder: Menalque, dessen Gedanken während dieses Berichts in weiter Feme weilten, besinnt sich schließlich wieder, wo er ist, und fragt den Pater, ob der Kanonikus oder der heilige Bruno verdammt sei. Er ist einmal in Gesellschaft einer Jungen Witwe, spricht mit ihr von ihrem verstorbenen Mann und fragt sie, wie er gestorben sei; die Frau, die bei diesem Gespräch ihr Leid erneut empfindet, weint, schluchzt und kann es nicht lassen, die Krankheit ihres Gatten in allen Einzelheiten zu schildern, vom Tage vor dem Ausbruch des Fiebers, wo er sich noch wohl befand, bis zu seinem Todeskampf. »Madame«, fragt darauf Menalque, der ihr scheinbar aufmerksam zuhörte, »hatten Sie nur diesen Mann?« Eines Morgens fällt es ihm ein, seinen Koch zur Eile anzuhalten, er steht vom Tisch auf, bevor noch das Obst gereicht ist, und empfiehlt sich; am selben Tage kann man ihn überall in der Stadt sehen, nur nicht an der Stelle, wo er sich wegen eben der Angelegenheit verabredet hat, die ihn veranlaßte, sich mitten im Essen zu erheben und sogar zu Fuß zu gehen, damit er nur Ja nicht aufseine Karosse zu warten brauchte. Hört ihr, wie er auf einen Diener schilt und in helle Wut gerät? Er begreift nicht, wo er sein mag: »Wo steckt er?« fragt er, »was treibt er denn, was ist nur mit ihm? Er soll sich nicht vor mir blicken lassen, ich jage ihn auf der Stelle fort!« Endlich erscheint der Diener, er fragt ihn kurz und herrisch, wo er herkomme; dieser erwidert ihm, er habe eben den Auftrag ausgerichtet, den er ihm gegeben, und bestellt ihm getreulich die Antwort. Man könnte ihn oft für etwas halten, was er gar nicht ist: für schwachsinnig, denn er hört euch nicht und antwortet noch viel weniger; für närrisch, denn nicht genug damit, daß er oft mit sich selber spricht, verzerrt er sein Gesicht und macht unbeherrschte Kopfbewegungen; für stolz und unhöflich, denn wenn ihr ihn grüßt, so geht er an euch vorüber, ohne euch zu beachten, oder er sieht euch an, ohne den Gruß zu erwidern; für unüberlegt, denn er spricht von Bankrott in einer Familie, die mit diesem Makel behaftet ist, von Hinrichtung und Schafott vor einem Manne, dessen Vater es bestiegen hat, von Emporkömmlingen vor Bürgerlichen, welche reich sind und für adlig gelten wollen. Er hat die Absicht, einen unehelichen Sohn unter fremdem Namen als Diener im eigenen Hause großzuziehen; Frau und Kinder sollen nichts davon erfahren, aber es vergeht kein Tag, ohne daß er ihn zehnmal seinen Sohn nennt; er hat auch beschlossen, einen seiner Söhne mit der Tochter eines Geschäftsmanns zu verheiraten, und doch kann er es nicht lassen, wenn er von seiner Familie und seihen Vorfahren spricht, immer wieder zu betonen, daß kein Menalque sich unter seinem Stand verheiratet habe. In Gesellschaft ist er immer abwesend und achtet nie auf den Gegenstand der Unterhaltung; er denkt und spricht zu gleicher Zeit, aber das, worüber er redet, ist selten das, woran er denkt; darum spricht er auch meist ohne Sinn und Zusammenhang; wo er nein sagt, muß man oft ein Ja setzen, und wo er Ja sagt, hat er sicher nein sagen wollen; während er euch so treffend antwortet, hat er die Augen weit offen; aber er schaut nicht damit, er sieht weder euch, noch irgendwen, noch irgend etwas auf der Welt; was ihr, selbst in Augenblicken, wo er zur Unterhaltung aufgelegt und mitteilsam ist, aus ihm herausbringen könnt, sind die Worte: »Ja wahrhaftig. Richtig! Gut! Wirklich? Ja freilich! Ich denke wohl. Ganz gewiß. Du lieber Himmel!« und andere Ausrufe dieser Art, die er nicht einmal an der rechten Stelle anzubringen weiß. Die Leute, mit denen er zusammen ist, hält er immer für das Gegenteil von dem, was sie sind: er redet seinen Bedienten mit der ernstesten Miene Monsieur an, seinen Freund nennt er dafür la Verdure; zu einem Prinzen von Geblüt sagt er Hochwürden, und Durchlaucht zu einem Jesuitenpater. Er hört die Messe, der Priester muß niesen, und er sagt zu ihm: »Gott helf Euch!« Ein Ratsherr, ein Mann von ernstem Charakter, ehrwürdig durch Alter und Amt, befragt ihn über ein Ereignis und erkundigt sich bei ihm, ob es sich so verhalte; Menalque erwidert ihm: »Ja, mein Fräulein.« Als er einmal vom Lande zurückkehrt, fassen seine Bedienten den Plan, ihn zu berauben, und führen ihn aus: sie steigen von der Kutsche, setzen ihm das Ende einer Fackel auf die Brust, fordern ihm seine Börse ab, und er gibt sie ihnen. Zu Hause angekommen, erzählt er sein Abenteuer den Freunden; diese verfehlen nicht, sich nach den näheren Umständen zu erkundigen, und er antwortet ihnen: »Fragt meine Leute, die waren dabei.«  - (bru)

Zerstreutheit (5)  Die Überlegung hilft dem Gedächtnis, indem sie das von diesem gesammelte Material ordnet, so daß in einem systematisierten Gedächtnis jeder Begriff gewöhnlich alle möglichen Folgerungen nach sich zieht. Allerdings leugne ich nicht, daß sowohl das Gedächtnis wie auch die Überlegung nur für eine bestimmte Zahl von Begriffen wirksam angewandt werden können. Ich zum Beispiel habe glänzend alles behalten, was ich von den exakten Wissenschaften der Menschheits- und Naturgeschichte gelernt habe, während ich andererseits das augenblickliche Verhältnis zu den mich umgebenden Gegenständen oft vergesse, deutlicher gesagt: ich sehe Dinge nicht, die vor meinen Augen liegen, und höre Worte nicht, die man mir oftmals ins Ohr schreit. Daher kommt es, daß mich einige für zerstreut halten. - (sar)

Zerstreutheit (6) Pnin, das vor allem muß betont werden, war alles andere als die Verkörperung jener gutmütigen deutschen Platitüde des vergangenen Jahrhunderts, eines zerstreuten Professors. Im Gegenteil, er war vielleicht zu wachsam, zu beständig auf der Suche nach teuflischen Fallgruben, zu ängstlich auf der Hut, daß ihn seine erratische Umwelt (das unberechenbare Amerika) ja nicht zu irgendeinem furchtbaren Versehen verleite. Die Welt war es, die zerstreut war, und es war Pnins Sache, sie wieder einzurenken. Sein Leben war ein unablässiger Kampf mit leblosen Dingen, die entzweigingen oder ihn attackierten oder nicht funktionieren wollten oder tückisch abhanden kamen, sobald sie in seine Lebenssphäre gerieten. Mit den Händen war er in ungewöhnlichem Maße ungeschickt; doch da er aus einer Erbsenschote im Nu eine Ein-Ton-Mundharmonika basteln, einen flachen Kieselstein zehnmal über die Oberfläche eines stillen Teichs hüpfen lassen und mit seinen Handknochen das Schattenbild eines Kaninchens (samt blinzelndem Auge) werfen und eine Reihe jener anderen harmlosen Tricks vollführen konnte, die Russen in petto zu haben pflegen, glaubte er selber sich mit beträchtlichem manuellem und mechanischem Geschick ausgestattet. Technischem Krimskrams war er mit einer Art benommenem, abergläubischem Entzücken zugetan. Elektrische Apparaturen bezauberten ihn. Von Plastik war er ganz und gar hingerissen. Tiefe Bewunderung hegte er für den Reißverschluß. Doch die ehrfürchtig in die Steckdose gesteckte Uhr brachte seinen Morgen durcheinander, wenn mitten in der Nacht ein Gewitter das nächste Kraftwerk lahmgelegt hatte. Sein Brillengestell brach an der Brücke und ließ ihn mit zwei identischen Teilen zurück, die er auf unbestimmte Weise wiederzuvereinen suchte, vielleicht in der Hoffnung, daß ihm irgendein organisches Restaurierungswunder zu Hilfe kommen würde. Der Reißverschluß, auf den ein Gentleman am meisten angewiesen ist, löste sich in einem Alptraumaugenblick der Eile und Verzweiflung unter seiner perplexen Hand.  - Vladimir Nabokov, Pnin. Reinbek bei Hamburg 2004 (zuerst 1957)

Zerstreutheit (7)  

Zerstreutheit (8)  Man könnte sich einen Selbstmord aus Zerstreutheit vorstellen, der kaum von einem Unfall zu unterscheiden wäre.

Ein Mann handhabt eine Pistole und weiß, daß sie geladen ist. Er hat weder Lust noch die Absicht sich zu töten. Aber er ergreift die Waffe mit Vergnügen, seine Handfläche umfaßt den Kolben, sein Zeigefinger unischließt den Abzugbügel mit einer Art von Wollust. Er stellt sich die Handlung vor. All­mählich wird er zum Sklaven der Waffe. Sie bringt ihren Besitzer in Versuchung. Beiläufig richtet er die Mündung gegen sich. Er nähert sie seiner Schläfe, dann seinen Zähnen. Nun ist er beinah in Gef ahr, weil der Gedanke an das Funktionieren, der Zwang einer vom Körper entworfenen und vom Geist voll­zogenen Handlung ihn übermannt. Der Kreislauf des Impulses strebt sich zu schließen. Das Nervensystem erzeugt sich selber eine geladene Pistole, und der Finger will sich plötzlich krümmen.

Eine kostbare Vase am Rand eines Tisches; ein Mann, der auf einer Brüstung steht, befinden sich in voll­kommenem Gleichgewicht. Und doch sähen wir sie lieber etwas weiter von der Senkrechten des leeren Raumes entfernt. Wir haben die peinigende Empfindung, wie wenig es braucht, um das Schicksal des Menschen oder des Dinges zu beschleunigen. Dies Wenige — wird es dem fehlen, dessen Hand bewaffnet ist? Falls er sich vergißt, der Schuß ihm entfährt, der Gedanke an die Handlung siegt und sich verwirklicht, bevor er die Bremsvorrichtung ausgelöst und die Selbstbeherrschung wieder erlangt hat — dürfen wir dann, was daraus folgt, einen Selbstmord aus Unachtsamkeit nennen? Das Opfer hat es geschehen lassen, und sein Tod ist ihm wie ein unüberlegtes Wort entfahren. Unmerklich hat es sich in eine gefährliche Zone seines Willensbereichs vor­gewagt. Seine Willfährigkeit gegen irgendwelche Tast- und Machtgefühle hat es in ein Gebiet geführt, wo die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe sehr groß ist. Es hat sich einem Lapsus, einem geringfügigen Vorfall des Gewissens oder der Übertragung anheimgegeben. Es tötet sich, weil es allzu leicht war, sich zu töten.   - (pval)

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Zerstreuung
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