- Jean Paul, Die unsichtbare Loge. München 1969 (zuerst 1793)
Zerfließen (2)
Ploriander, der in die Schäfferin Ruffanella verliebte Schäffer,
von seinem eignen beweglichen Gesang in thränen zerflissendt. |
Ruffanella, ach mein Schatz! ich muß vor Lieb
zerschmelzen, |
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(zwe)
Zerfließen (3) Ich bewegte ‹mit unruhiger Hand› das Siegel über der Kerzenflamme, zog das Papier auseinander, als der Siegellack weich wurde, und erschrak, weil sich innen etwas regte. Dann glitt eine Schlange heraus, ein grünlich, grau und schwarz gemustertes Tier, das den Rachen aufsperrt und als fleischerner Ring wie tot auf der Tischplatte liegenblieb.
Ich wich davor zurück. Dann untersuchte ich mit einer Pincette die Papierhülle des Päckchens, weil ich dachte, es sei vielleicht noch etwas Gefährliches darin. Es war ein Päckchen, wie sie nur bei uns in der Altstadt gefertigt wurden; auch das Papier war alt, grobkörnig und fest. Solches Papier gab es nur in unserer Cantzley für Briefabschriften an den Fürsten Metternich, und der Absender oder die Absenderin mußten also von einem der unseren das Papier bekommen haben. Sein Inhalt aber, diese Schlange, bedeutete nichts anderes als eine Todesdrohung an den Statthalter.
Ich schob ein Blatt unter die Schlange und trug beides zu meinem Pult. Dort begann ich die Schlange mit einem Silberstift abzuzeichnen, rückte den hölzernen Farbkasten zurecht, um meine Zeichnung hernach colorieren zu können, doch schien die Schlange auf dem Papier tiefer zu sinken, wurde flach, war also genaues Abbild wie auf einem Kupferstich im Blatt und verblich immer mehr, bis sie unsichtbar geworden war. Ich hob das Blatt gegen das Licht. Da schlang die Schlange sich als Wasserzeichen um den Doppeladler.
Jemand räusperte sich neben mir. Ich erschrak und sah drüben in der Ecke
Bureauvorsteher Flossenbeck hinter seinem geräumigen Schreibtisch, wie er die
Manschettenknöpfe aus den Ärmeln löste und die Hemdsärmel aufkrempelte, so daß
seine muskulösen, sommersprossengesprenkelten Arme sichtbar wurden. Sein derbes
Gesicht verzog sich zu einer grinsenden Grimasse und zerfloß. Ich war wieder
allein und hatte mir alles eingebildet. -
Hermann Lenz, Spiegelhütte. Frankfurt am Main 1999 (zuerst 1962)
Zerfließen (4)
Ich lasse mich in Wasser begraben, falls man mir ein Grab in Velenka
oder Sadská verkauft, ein Grab, das quer zur Hügelkuppe liegt, es muß schön
sein, wenn der Sarg entzweibricht und ich, wie auf dem Rücken eines Esels oder
Maultiers, mit einer Hälfte der Eistorte ins Grundwasser eines Flüßchens und
mit der anderen ins Grundwasser eines Bachs fließen werde, meine Beine werden
mit der Vejvorka da vonfließen, und mein Rumpf mit dem Velenkabach in die Elbe,
aber viel später oder früher? Am schönsten war's, auf böhmischem Grund begraben
zu sein, aber ich bin gern gereist, also wär's am besten auf einem Friedhof,
von dessen Gipfel die einen Wasser in die Sázava und die anderen in die Elbe
fließen, damit ich bei Melnik, wo die Moldau in die Elbe mündet, mir selbst
begegne und zuletzt, wie alles, im Meer ende, das ist ungefähr das, was das
Schönste im Leben ist, worauf ich hoffe, woran ich glaube und was ich weiß,
das einzig Gewisse, die Gewißheit aller Gewißheiten ist die Tatsache, daß so,
wie ich mich heute und täglich im Bach wasche und mir Verstorbene ins Gesicht
spritze, sich einmal jemand Reste meines destillierten Ich in sein Gesicht schmieren
wird, ein schönes Wässerchen mit ziemlich viel Glanz und dem Duft, in den sich
alle Gerüche verwandeln. Nie wische ich mein Gesicht mit einem Handtuch ab,
ich lasse es immer an der Luft trocknen. So eingeschmiert mit einer Maske, einer
warmen Schicht aus ehemaligen Verstorbenen, gehe ich durch den Garten und den
Wald, ich schnuppere an mir, berühre mich. Eigentlich gibt es den Tod nicht.
Ich bin unsterblich. Also gehe ich getrost in die Hájenka, um Bier zu trinken.
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(hra2)
Zerfließen (5)
Das Wasser, dieses erstgeborne Kind lustiger
Verschmelzungen, kann seinen wollüstigen Ursprung nicht verläugnen und zeigt
sich, als Element der Liebe und der Mischung mit himmlischer Allgewalt auf Erden.
Nicht unwahr haben alte Weisen im Wasser den Ursprung der Dinge gesucht, und
wahrlich sie haben von einem höhern Wasser, als dem Meer- und Quellwasser gesprochen.
In jenem offenbaret sich nur das Urflüssige, wie es im flüssigen Metall zum
Vorschein kommt, und darum mögen die Menschen es immer auch nur göttlich verehren.
Wie wenige haben sich noch in die Geheimnisse des Flüssigen vertieft und manchem
ist diese Ahndung des höchsten Genusses und Lebens wohl nie in der trunkenen
Seele auf gegangen. Im Durste offenbaret sich diese Weltseele, diese gewaltige
Sehnsucht nach dem Zerfließen. Die Berauschten fühlen nur zu gut diese überirdische
Wonne des Flüssigen, und am Ende sind alle angenehme Empfindungen in uns mannichfache
Zerfließungen, Regungen jener Ur-gewässer in uns. Selbst der Schlaf ist nichts
als die Flut jenes unsichtbaren Weltmeers, und das Erwachen das Eintreten der
Ebbe. Wie viele Menschen stehn an den berauschenden Flüssen und hören nicht
das Wiegenlied dieser mütterlichen Gewässer, und genießen nicht das entzückende
Spiel [ihrer] unendlichen Wellen! Wie diese Wellen, lebten wir in der goldnen
Zeit; in buntfarbigen Wolken, diesen schwimmenden Meeren und Urquellen des Lebendigen
auf Erden, liebten und erzeugten sich die Geschlechter der Menschen in ewigen
Spielen; wurden besucht von den Kindern des Himmels und erst in jener großen
Begebenheit, welche heilige Sagen die Sündflut nennen, ging diese blühende Welt
unter; ein feindliches Wesen schlug die Erde nieder, und einige Menschen blieben
geschwemmt auf die Klippen der neuen Gebirge in der fremden Welt zurück. - Novalis,
Die Lehrlinge zu Sais
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