erfließen     Der Erdball glitt so leise wie der Schwan unter den Blumeninseln, an die ich mich lagerte, durch den Äther-Ozean dahin, der freundliche Himmel bückte sich tiefer zur Erde nieder, es war dem Herzen, als müßt' es im stillen weiten Blau zerfließen, als müßt' es von fernen ein verhalltes Jauchzen hören, und es sehnte sich nach arkadischen Ländern und nach einem Freund, vor dem es zerginge - - Ich setzte mich mit der Reißfeder auf einen künstlichen Felsen neben dem See und wollte meine Aussicht zeichnen - die einander umarmenden Erlenbäume, die das Ende des umgekrümmten Sees zuhüllten und belaubten - die bunte Reihe der Blumeninseln, um deren jede schon ein doppeltes Blumenstück ihrer geschmückten Insulanerin gemalet schwamm, nämlich das bunte Blumenbild, das unter dem Wasser zum Spiegel-Himmel hinabging, und der Schattenriß, der auf dem zitternden Silbergrunde schwankte - und die lebendige Gondel, der Schwan, der zu meinen Füßen sich in hungriger Hoffnung drehte; - aber als die ganze hoch aufgerichtete Natur mir saß und mich mit ihren Strahlen ergriff, die von einer Sonne zur andern reichen: so betete ich an, was ich nachfärben wollte; und sank Gott und der Göttin zu Füßen....- Jean Paul, Die unsichtbare Loge. München 1969 (zuerst 1793)

Zerfließen  (2)

Ploriander, der in die Schäfferin Ruffanella verliebte Schäffer, von seinem eignen beweglichen Gesang in thränen zerflissendt.

Zerfließen

 

Ruffanella, ach mein Schatz! ich muß vor Lieb zerschmelzen,
Mein Hirn ist krump und lahm, die Zunge geht auff stelzen,
Mir schmekt kein Speiß noch Trank, kein Schlaff & keine Ruhe,
Ich sterb vor Lieb ump dich, und du lachst nur darzue,
Es ist ja Schad umb mich, und umb mein junges Leben,
Schäm dich ins Hertz hinein, (daß mir) ein Korb thust geben.
 

- (zwe)

Zerfließen  (3)  Ich bewegte ‹mit unruhiger Hand› das Siegel über der Kerzenflamme, zog das Papier auseinander, als der Siegellack weich wurde, und erschrak, weil sich innen etwas regte. Dann glitt eine Schlange heraus, ein grünlich, grau und schwarz gemustertes Tier, das den Rachen aufsperrt und als fleischerner Ring wie tot auf der Tischplatte liegenblieb.

Ich wich davor zurück. Dann untersuchte ich mit einer Pincette die Papierhülle des Päckchens, weil ich dachte, es sei vielleicht noch etwas Gefährliches darin. Es war ein Päckchen, wie sie nur bei uns in der Altstadt gefertigt wurden; auch das Papier war alt, grobkörnig und fest. Solches Papier gab es nur in unserer Cantzley für Briefabschriften an den Fürsten Metternich, und der Absender oder die Absenderin mußten also von einem der unseren das Papier bekommen haben. Sein Inhalt aber, diese Schlange, bedeutete nichts anderes als eine Todesdrohung an den Statthalter.

Ich schob ein Blatt unter die Schlange und trug beides zu meinem Pult. Dort begann ich die Schlange mit einem Silberstift abzuzeichnen, rückte den hölzernen Farbkasten zurecht, um meine Zeichnung hernach colorieren zu können, doch schien die Schlange auf dem Papier tiefer zu sinken, wurde flach, war also genaues Abbild wie auf einem Kupferstich im Blatt und verblich immer mehr, bis sie unsichtbar geworden war. Ich hob das Blatt gegen das Licht. Da schlang die Schlange sich als Wasserzeichen um den Doppeladler.

Jemand räusperte sich neben mir. Ich erschrak und sah drüben in der Ecke Bureauvorsteher Flossenbeck hinter seinem geräumigen Schreibtisch, wie er die Manschettenknöpfe aus den Ärmeln löste und die Hemdsärmel aufkrempelte, so daß seine muskulösen, sommersprossengesprenkelten Arme sichtbar wurden. Sein derbes Gesicht verzog sich zu einer grinsenden Grimasse und zerfloß. Ich war wieder allein und hatte mir alles eingebildet. - Hermann Lenz, Spiegelhütte. Frankfurt am Main 1999 (zuerst 1962)

Zerfließen  (4)  Ich lasse mich in Wasser begraben, falls man mir ein Grab in Velenka oder Sadská verkauft, ein Grab, das quer zur Hügelkuppe liegt, es muß schön sein, wenn der Sarg entzweibricht und ich, wie auf dem Rücken eines Esels oder Maultiers, mit einer Hälfte der Eistorte ins Grundwasser eines Flüßchens und mit der anderen ins Grundwasser eines Bachs fließen werde, meine Beine werden mit der Vejvorka da vonfließen, und mein Rumpf mit dem Velenkabach in die Elbe, aber viel später oder früher? Am schönsten war's, auf böhmischem Grund begraben zu sein, aber ich bin gern gereist, also wär's am besten auf einem Friedhof, von dessen Gipfel die einen Wasser in die Sázava und die anderen in die Elbe fließen, damit ich bei Melnik, wo die Moldau in die Elbe mündet, mir selbst begegne und zuletzt, wie alles, im Meer ende, das ist ungefähr das, was das Schönste im Leben ist, worauf ich hoffe, woran ich glaube und was ich weiß, das einzig Gewisse, die Gewißheit aller Gewißheiten ist die Tatsache, daß so, wie ich mich heute und täglich im Bach wasche und mir Verstorbene ins Gesicht spritze, sich einmal jemand Reste meines destillierten Ich in sein Gesicht schmieren wird, ein schönes Wässerchen mit ziemlich viel Glanz und dem Duft, in den sich alle Gerüche verwandeln. Nie wische ich mein Gesicht mit einem Handtuch ab, ich lasse es immer an der Luft trocknen. So eingeschmiert mit einer Maske, einer warmen Schicht aus ehemaligen Verstorbenen, gehe ich durch den Garten und den Wald, ich schnuppere an mir, berühre mich. Eigentlich gibt es den Tod nicht. Ich bin unsterblich. Also gehe ich getrost in die Hájenka, um Bier zu trinken.  - (hra2)

Zerfließen  (5)  Das Wasser, dieses erstgeborne Kind lustiger Verschmelzungen, kann seinen wollüstigen Ursprung nicht verläugnen und zeigt sich, als Element der Liebe und der Mischung mit himmlischer Allgewalt auf Erden. Nicht unwahr haben alte Weisen im Wasser den Ursprung der Dinge gesucht, und wahrlich sie haben von einem höhern Wasser, als dem Meer- und Quellwasser gesprochen. In jenem offenbaret sich nur das Urflüssige, wie es im flüssigen Metall zum Vorschein kommt, und darum mögen die Menschen es immer auch nur göttlich verehren. Wie wenige haben sich noch in die Geheimnisse des Flüssigen vertieft und manchem ist diese Ahndung des höchsten Genusses und Lebens wohl nie in der trunkenen Seele auf gegangen. Im Durste offenbaret sich diese Weltseele, diese gewaltige Sehnsucht nach dem Zerfließen. Die Berauschten fühlen nur zu gut diese überirdische Wonne des Flüssigen, und am Ende sind alle angenehme Empfindungen in uns mannichfache Zerfließungen, Regungen jener Ur-gewässer in uns. Selbst der Schlaf ist nichts als die Flut jenes unsichtbaren Weltmeers, und das Erwachen das Eintreten der Ebbe. Wie viele Menschen stehn an den berauschenden Flüssen und hören nicht das Wiegenlied dieser mütterlichen Gewässer, und genießen nicht das entzückende Spiel [ihrer] unendlichen Wellen! Wie diese Wellen, lebten wir in der goldnen Zeit; in buntfarbigen Wolken, diesen schwimmenden Meeren und Urquellen des Lebendigen auf Erden, liebten und erzeugten sich die Geschlechter der Menschen in ewigen Spielen; wurden besucht von den Kindern des Himmels und erst in jener großen Begebenheit, welche heilige Sagen die Sündflut nennen, ging diese blühende Welt unter; ein feindliches Wesen schlug die Erde nieder, und einige Menschen blieben geschwemmt auf die Klippen der neuen Gebirge in der fremden Welt zurück. - Novalis, Die Lehrlinge zu Sais

 

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