elle   Ich wurde in das Festungsgefängnis Spandau eingeliefert. Ich blieb dort eine ganze Weile, täglich mit dem Kompanie-Essen verpflegt. Ich hörte nichts von einem Prozeßverfahren. Mir wurde auch keine Anklage verlesen. Ich saß in der Zelle und schrieb den ersten Teil der Bücher, die im Aktions-Verlag später erschienen sind. Niemand hat mich dort besucht.

Es ist natürlich leicht, nach den Jahrzehnten die Erinnerung abzustoßen in hell und dunkel, trotzdem ist es ohne Übertreibung die Wahrheit: Ich habe mich niemals mehr in meinem Leben so wohl gefühlt. Ich habe mich mit den Fliegen unterhalten, denen ich Zucker gestreut habe und Brotkrümel in Zuckerwasser getaucht. Ich habe dann beobachtet, wie die Fliegen betrunken wurden, im Zickzack um den Zucker gezirkelt und oft auch umgefallen sind; alle haben sich nach einer Weile wieder erholt - die Fliegen hatten keine Erinnerungen mit sich herumzuschleppen, sie fliegen beschwingt davon---  - Franz Jung, Der Weg nach unten. In: Franz Jung, Schriften, Bd. 1, Salzhausen / Frankfurt am Main 1981

Zelle (2)  Die Männer und Frauen oben schien meine Ankunft heftig zu interessieren. Jene, die der Lage nach an der Fassade verteilt waren, konnte ich deutlich sehen, wie sie sich an die für die Augen nicht vorhandene Mauer preßten, um mich bequemer anzuschauen. Das Licht im leeren Raum machte sie bleich wie Pierrots mit schwarzen Schatten in den Gesichtern. Die anderen, die sich nicht an der Vorderwand befanden, blieben auf der ganzen Fläche des Stockwerks verteilt wie Soldaten, die bei gewissen Übungen ihre Reihen auflösen ... Diese betrachteten mich quer durch die dichte Schicht von Tieren unter ihnen. Als ich sie dergestalt voneinander getrennt sah, gleichfalls wie Schachfiguren unordentlich auf den Feldern eines Brettes aufgestellt — als ich sah, daß sie in ihrer Stellung verharrten, statt an die Fassade zu eilen, begriff ich, daß jeder seine abgeteilte Kammer hatte.

Man brachte mich ungefähr in der Mitte zum Stehen. Irgend etwas wurde eingehakt und widerhallte dumpf auf dem Oberteil meiner Kabine; rund umher knarrte und knirschte es; und von neuem erhob ich mich, streifte die Pflanzen, die Steine und dann die Tiere.

Im Stockwerk der Menschen - stop. Meine Kabine wurde auf den Fußboden des Stockwerks geschoben, und ich erriet, daß ich nun der Masse des übrigen Gebäudes einverleibt und nur mehr ein luftgefüllter Würfel war, dicht an ebensolchen Würfeln, die gleicherweise je ein Männlein oder Weiblein enthielten. Neben mir im benachbarten Abteil heftete ein junger Bursch den Blick auf mich, und alle meine Erdenbrüder hatten sich nach mir gewendet, all diese Erscheinungen ohne sichtbaren Stützpunkt, paradox im Nichts zusammengeschart, bleich und dunkel zugleich, schmutzig, abstoßend, Spitalsgesichter, Asylgesichter, Gefangenenhausgesichter...  - Maurice Renard, Die blaue Gefahr. Frankfurt am Main 1989 (st 1596, Phantastische Bibliothek 225, zuerst 1911)

Zelle (3) Ein Leutnant von den Windischgrätz-Dragonern, der an delirium tremens litt, doch in den nächsten Tagen schon von seinem Vater, einem Gutsbesitzer in der Slovakei, auf Erholungsurlaub nachhause gebracht werden sollte, teilte das Zimmer mit ihm. Die anspruchsvolle Kameradschaft dieses Menschen, doppelt beschwerlich in so engem Raum, von Trakl jedoch mit rührender Geduld und Nachsicht für den Unglücklichen ertragen, seine Wutausbrüche, die von Schlaf zu Schlaf mit Anwandlungen eines in seiner Aufgeräumtheit völlig sinnlos anmutenden Mitteilungsbedürfnisses wechselten, die unflätigen Beschimpfungen, die er in Ermanglung eines eigenen über Trakls Diener, der ihm zur Verfügung stand und ihm nichts recht machen konnte, ausgoß, Beschimpfungen, welche den Burschen einmal, in meiner Gegenwart, so in Harnisch brachten, daß er, am ganzen Leib bebend, gepeinigt aufschrie und auf Trakl weisend die Worte hervorstieß: „Der da ist mein Herr, nicht Sie!" Worauf Trakl, sich mühsam beherrschend, den rabiaten Kameraden mit den Worten zurechtwies: „Ich bitt' Dich, schau — laß doch den armen Menschen, Du siehst, er tut ja, was er kann!" Dazu die Unruhe, das stete Kommen und Gehen draußen auf dem Gang, die Roheit der Wärter, gelegentliches Gepolter und Geschrei der Irren im oberen Stockwerk, im übrigen der Eindruck einer Gefängniszelle, der sich bei einbrechender Dunkelheit ins Trostlose verdichtete. Und schließlich, sobald es Nacht geworden war: die Ausgesetztheit aller demütigen Kreatur in dieser Welt der sinnlosen Gewalt zu unvergeßlichem Eindruck gesteigert, wenn Trakls Diener, ein blasser, kränklich aussehender Mensch, Zeltblatt und Decke über einem Häuflein Holzwolle auf dem Boden ausbreitete, um in dem Winkel zwischen Fensterwand und Eisenbett zu Häupten seines Herrn sich schlafen zu legen. - Ludwig von Ficker, nach: Erinnerung an Georg Trakl. Hg. Ludwig von Ficker. Salzburg 1966 

Zelle (4) Finsternis schloß ihn ein. Aber der Regen dauerte fort mit blitzartiger Schnelligkeit; hoch und erstickend stieg der Aschenhaufen empor; tödliche Dünste strömten von demselben aus. Der Unglückliche schnappte nach Luft, in Verzweiflung suchte er abermals zu fliehen. Die Asche hatte die Tür versperrt - er schrie laut auf und sein Fuß fuhr vor der kochenden Masse zurück. Wie sollte er entkommen? Er konnte nicht ins Freie hinausklettern, und wäre er selbst hinausgekommen, so vermochte er doch den Schrecken, die draußen wüteten, nicht zu trotzen. Am besten war's, in der Zelle zu bleiben, die ihn wenigstens gegen die tödliche Luft schützte. Mit knirschenden Zähnen setzte er sich nieder. Allmählich jedoch drang die äußere Atmosphäre erstickend und giftgeschwängert in das Gemach. Er vermochte es nicht länger auszuhalten. Seine umherstierenden Augen fielen auf ein Opferbeil, das ein Priester zurückgelassen hatte. Er ergriff es. Mit der verzweiflungsvollen Kraft seines Riesenarmes suchte er sich einen Weg durch die Mauer zu hauen. - Edward George Bulwer-Lytton, Die letzten Tage von Pompeij. Frankfurt am Main 1986 (it 801, zuerst 1834)

Zelle (5) Ich habe wenig Aussicht, in das Gästehaus der Kamaldulenser aufgenommen zu werden, das nach Art eines modernen Hotels für Außenstehende eingerichtet ist, und in dem sich die Zellen befinden, in die der Gast sich für kurze oder längere Zeit einmauern lassen kann, dem Vorbild der heiligen Einsiedler und Eremiten nachzuleben.

An der Eingangstür zum Gästehaus steht der Spruch eines der Wüstenväter gemeißelt: „Freund - indem du hier eintrittst, hast du bereits drei große Kämpfe in deinem Leben siegreich beendet: Hören, Sehen, Sprechen." Nichts mehr hören - nichts mehr sehen - nicht mehr sprechen. „Aber in einem letzten Kampf hast du bis zu deinem Ende durchzuhalten: im Kampf gegen dein eigenes Herz."   - Franz Jung, Der Weg nach unten. In: Franz Jung, Schriften, Bd. 1, Salzhausen / Frankfurt am Main 1981

Zelle (6)   Die Ausstattung eines solchen Ortes ist bekannt: eine schlechte Imitation eines Bettes, das tagsüber vorschriftsmäßig an die Wand geklappt werden muß, so daß man gezwungen ist, sich auf den Boden zu legen; ein an der gegenüberliegenden Wand befestigter Tisch und neben ihm ein an dieselbe Wand geschmiedeter Schemel, damit der Gefangene nicht der Versuchung nachgibt, ihn zu benutzen, um seinen Wärter zu erschlagen. (Wie kann ein Mensch Gefängniswärter werden? Das kann ich immer noch nicht verstehen. Abgesehen von der abgründigen Schmach, die ein solcher „Beruf" voraussetzt, lebt auch der Wärter im Gefängnis).

Eines Morgens waren die außer Reichweite befindlichen Fensterscheiben blau angestrichen. Ich verbrachte einen guten Teil des Tages rücklings auf dem Boden liegend und den Kopf auf das Fenster gerichtet, wodurch jetzt kein Sonnenlicht mehr hineindrang. Nun habe ich einige Augenblicke, nachdem man die Scheiben bemalt hatte, auf ihnen das Gesicht François des Ersten gesehen, so wie ich mich daran nach den Geschichtsbüchern der Volksschule noch erinnern konnte. Auf der nächsten Scheibe bäumte sich ein Pferd. Daneben war eine tropische Landschaft zu sehen, ähnlich denen des Zöllners Rousseau, in deren rechtem, unteren Winkel eine Fee zum Vorschein kam. Eine so reizende Fee, die mit einer lichten, anmutigen Geste ihrer über den Kopf erhobenen Hand Schmetterlinge in die Luft warf! Auf der letzten Scheibe konnte ich die Zahl 22 lesen und ich wußte sofort, daß ich am 22. freigelassen würde. Aber am 22. welchen Monats, welchen Jahres? Wir hatten die erste Woche des Monats Juni 1940. Die Anklage, unter der ich stand, wurde damals schwer bestraft und ich rechnete in meinen optimistischsten Schätzungen mit drei Jahren Gefängnis. Trotzdem war ich gleich gegen jede Wahrscheinlichkeit überzeugt, daß meine Freilassung nah sei.   - Benjamin Péret:  Das Wort har Péret, in: B. P., Die Schande der Dichter. Prosa, Lyrik, Briefe. Hamburg 1985 (Edition Nautilus)

 

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