eitwahrnehmung
Was ist Gleichzeitigkeit? Wann beginnt das Nacheinander?
Solchen Fragen sind die Münchner Forscher nachgegangen, indem sie Versuchspersonen
baten, auf optische, akustische oder Berührungsreize mit einem Knopfdruck zu
reagieren. Die Probanden mußten dabei entscheiden, ob ihnen ein oder zwei Reize
präsentiert worden waren. Das akustische Sensorium des Menschen scheint in puncto
Zeitwahrnehmung am besten abzuschneiden. Zwei kurze Klickgeräusche werden schon
als getrennt wahrgenommen, wenn sie zwei bis drei Millisekunden, also zwei bis
drei tausendstel Sekunden auseinanderliegen. Der Tastsinn braucht zehn Millisekunden
Differenz zwischen zwei Reizen, der Sehsinn gar zwanzig bis dreißig. «Fusionsschwelle»
nennen Pöppel und Ruhnau die zeitliche Grenze, an der zwei Ereignisse miteinander
verschmelzen. Die Schwelle ist von der Physiologie der jeweiligen Sinneswahrnehmung
abhängig und unterscheidet sich daher von Sinneskanal zu Sinneskanal. Im Vergleich
zum Ohr ist das Auge ein verhältnismäßig
träges Organ.
Doch wenn es gilt, Ordnung in die Zeit zu bringen, liegen die Sinne des Menschen gleichauf. Etwa dreißig Millisekunden Abstand sind nötig, damit eine Versuchsperson entscheiden kann, welcher visuelle, akustische oder taktile Reiz der erste und welcher der zweite ist. Erst nach dem Erreichen dieser sogenannten «Ordnungsschwelle» hat die wahrgenommene Zeit eine Richtung. Was beweist: Unabhängig von der Funktionsweise der Sinne und ihren typischen Verarbeitungszeiten ist die Identifikation und Einordnung von Ereignissen eine Funktion des Gehirns. Und: Dreißig Millisekunden entscheiden über das Vor- und Nachher. Unterhalb der Schwelle scheint die Zeit stillzustehen.
Für das Gehirn macht es Sinn, solche «Fenster der Gleichzeitigkeit» aufzustoßen.
So treffen etwa bei einem Gespräch Bild und Ton des Gegenübers zu unterschiedlichen
Zeiten ein. Das Licht ist etwa eine Million mal schneller als der Schall. Nur
ein System, das Zeit nicht als Kontinuum, sondern als Reihe von komprimierten
Momentaufnahmen wahrnimmt, akustische und visuelle Eindrücke zu einem Datenpaket
zusammenschnürt, erzeugt eine stimmige Synchronisation von Ton und Bild. - (kopf)
Zeitwahrnehmung (2) Rudolf Steiner vergleicht den leblosen Zustand der Minerale mit dem der Leichname; das schweigsame Leben der Pflanzen mit dem schlafender Menschen; das momentane Aufmerken des Tieres mit denen des sorglosen Schläfers, der Unzusammenhängendes träumt. Im dritten Band seines wunderbaren Wörterbuchs der Philosophie bemerkt Fritz Mauthner: »Es scheint, daß die Tiere von dem Zeitverlaufe und der Zeitdauer höchstens dunkle Ahnungen haben. Der Mensch dagegen, wenn er noch dazu ein Psychologe der neuen Schule ist, kann zwei Eindrücke als in der Zeit verschieden wahrnehmen, die nur durch 1/500 einer Sekunde getrennt sind.« In einem posthumen Buch von Guyau - La Genese de l'Idee du Temps, 1890 - stehen zwei oder drei analoge Stellen. Ouspenski (Tertium Organum, Kapitel IX) stellt sich dem Problem nicht ohne Beredsamkeit; er behauptet, die Welt der Tiere sei zweidimensional, sie seien unfähig, eine Kugel oder einen Würfel zu begreifen. Jeder Winkel ist für sie eine Bewegung, ein Vorfall in der Zeit,.. Wie Edward Carpenter, wie Leadbeater, wie Dunne sagt Ouspenski voraus, daß unser Geist auf die lineare Zeitabfolge verzichten und das Weltall auf engelhafte Art und Weise anschauen wird: sub specie aeternitatis.
Zum gleichen Schluß gelangt Heard in einer gelegentlich vom psychiatrischen
oder soziologischen patois verseuchten Sprache. Er gelangt, das heißt:
Ich glaube, daß er dahin gelangt. Im ersten Kapitel seines Buches behauptet
er die Existenz einer unbeweglichen Zeit, die wir Menschen durchschreiten. Ich
weiß nicht, ob dieses denkwürdige Urteil eine bloße metaphorische Verneinung
der kosmischen, gleichförmigen Zeit Newtons ist oder ob er buchstäblich die
Koexistenz der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft behauptet. Im letzten
Fall (würde Dunne sagen) entartet die unbewegliche Zeit zum Raum und unsere
Ortsveränderung erfordert eine andere Zeit... -
Jorge Luis Borges, Kabbala und Tango. Essays. Frankfurt am Main 1991
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