Zeitgeist  Er erinnerte sich ihrer kurzfingerigen Hände und ihres vollschlanken, feinhäutigen Arms, den sie im Treppenhaus ausgestreckt hatte, als er, vorausgehend, von der Treppenkehre aus zu ihr aufgeschaut hatte. Dann sagte sie: »Ich weiß nicht, wie der da ist...« Und lächelnd deutete sie auf ihren Mann, der hinter ihr durch die Glastür herauskam. Eugen bemerkte: »Das weiß keiner vom andern«, und Lachner sagte, das sei ihm zu impressionistisch, was Eugen verwunderte, weil er sich daran erinnerte, daß Lachner zwar nie Sympathien mit literarischen Moden oder Meinungen verriet, aber für ›linke‹ Ärgernisse ein geneigtes Ohr hatte ... Und wenn es ihm zuwider war, daß einer glaubte, das Leben bestünde aus Milliarden Augenblicken, die beständig wechselten, und deshalb wisse niemand etwas vom anderen Menschen, hätte er für »ewige Werte« eintreten müssen, also für »das Alte Wahre«, wie der Herr von Goethe sagte. Als ›Links-Gläubiger‹ mußte er dieses ›Alte Wahre‹ verachten und fortschrittlich für Neues kämpfen. Dies aber tat er nicht, denn Herr Lachner witterte den Zeitgeist, der einem gewissen Eugen Rapp zuwider war. Und Eugen dachte: warum soll der Lachner nicht im linken Strome schwimmen, sozusagen? Jeder darf seine Meinung behalten, und überzeugen kann sowieso keiner den andern. Vielleicht zum Schein, als Tarnung, ja, dies war schon möglich. Und die meisten hatten keine Meinung, glichen sich aber den Meinungen der Mehrzahl an. Warum auch nicht? Dir ist es zwar zuwider, aber schließlich darf es dir gleichgültig sein...   - Hermann Lenz, Seltsamer Abschied. Frankfurt am Main 1990
 

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