eichendeuten Es bleiben die Buchstaben keine »toten Buchstaben«, sondern werden vom Saft einer kostbaren Kabbala durchströmt, der sie ihrer dogmatischen Starre entreißt und bis in ihre äußersten Verästelungen hinein belebt. Ganz von selbst verwandelt sich das A zur Jakobsleiter (oder zur zweischenkligen Leiter des Anstreichers), das I (ein Militär in Hab-acht-Stellung) zur Feuer- und Wolkensäule, das O zur Weltkugel, das S zum Schlängelpfad (sentier) oder zur Schlange (serpent), das Z zum Blitz, der nur der Blitz von Zeus oder Jehova sein kann.
Andere Buchstaben verkörpern mehr oder weniger den Gehalt bestimmter Wörter, deren Initial sie sind: V keilt sich ein zum Flügelschlag wegen des Worts »vautour« (Geier), zum »ventre évidé« (hungerhohler Bauch) wegen »vorace« (Völlerei), wird zum Krater, denkt man an den Vesuv oder einfach an den Vulkan. R ahmt den rauhen Umriß von »rocher« (Riff) nach; B die bierbauchige Form von »Bibendum« (diesem dicken Biedermann, der sich in schrecklicher Atmung auf- und abbläht), das Lippenmaul von »bébé« (Baby) oder das Verdichtende eines B-Moll; P hat etwas Erhöhtes in »potence« (Hochgericht, Pranger) oder in »Prinz«; M die Majestät von »mort« (Tod) oder »Mutter«; C das Konkave von »cavernes« (Höhlen), »conques« (Muscheln) oder »coquilles d'œufs« (Eierschalen), die gern zerbrechen.
Andere - betrachtet man ihre Gestalt, ihren Namen oder bestimmte Verwendungsweisen — muten an wie Zubehöre irgendeiner zugleich einfachen und tragischen Handlung: X ist wahrhaftig das Kreuz (croix) über der endgültig begrabenen Sache, in deren Geheimnis man nie eindringen wird, und zugleich der Folterbock, auf den diese ungenannte Sache gespannt ist, um dort lebendig gerädert oder gar gevierteilt zu werden; H, Homonym von »hache« (Hackbeil) und mit dem Aussehen einer Guillotine, aus zwei Streben bestehend, zwischen denen ein transversales Fallbeil gleitet; Y, das wie ein Baumstamm ist, der in zwei mächtige, kahle, in den Himmel gereckte Äste ausläuft, oder wie das einzige Bruchstück eines Säulengangs, das eine geschleifte griechische Stadt überlebt hat.
Andere dagegen haben ein liederliches Benehmen, sind Possenreißer, in allerlei Flitterkram umherstolzierend und einzig das Pittoreske im Sinn: G, ein großer Florentiner Herr, im Wams mit Plusterärmeln, die Faust posiert in Höhe der Hüfte und in nächster Nähe des schweren Stichblatts seines Degens oder des Griffs seines Dolches; K, wo sich eine Art Winkel eingenistet oder das ein Axthieb verwüstet hat, der ihm die ganze Mitte des Gesichts spaltete, das nun so zerschlagen aussieht wie bei der bösen Fee Carabosse: zwischen den monströsen Aufragungen von Stirn und Kinn der tief herabhängende Mund und plattgedrückte Nasenlöcher; Q mit dem runden und jovialen Gesicht des Liebhabers gängiger Sprachspiele, mit einem auf dem kleinen Knoten der Krawatte abgestützten Doppelkinn; Q, ein Buchstabe, der, spricht man ihn, schneidend ist wie der Axthieb, der in den nun in die beiden Hinterbacken gespaltenen primordialen Globus diese tiefe Furche zog; W, das angelsächsische Wörter wie »tramway«, »wattman«, »wagon« wachruft und sich, wie ein Maschinenteil anmutend, mit allem einläßt, was modernes Fortbewegungsmittel ist.
Manche Buchstaben schließlich bleiben ziemlich belanglose Gefüge: das dickbauchige
D; E, die gekrümmte Zinke; das erkernde F; J, ein Angelhaken oder umgekehrter
Krummstab; L, der beinlose Stuhl, die Lehne aufrecht auf den Boden gesetzt;
N, der Beginn einer Zick-Zack-Formation; T, der einzige tragende Pfeiler eines
Architravs; U, eine rundbödige Vase, im Längsschnitt gesehen. Hier ist alles
nur spielerische Form; allein der Blick ist beteiligt, das Schriftzeichen schmarotzt
nicht von den Wörtern, mit denen es verknüpft ist, und vermischt sich auch nicht
mit dem Laut, den es zu bezeichnen hat, wie im Fall des S, dessen zischende
Tonführung (sonorité sifflante) mit seiner Schlängelung in Einklang steht, des
R, das, wie ein schroffes Riff (roc escarpe) aufgerichtet, zugleich ein rauh
röchelndes Rollen hören läßt, des V, flinker Vogelflug (vol veloce), der die
Luft schlitzt, oder Schwert (glaive) mit scharfer Spitze, das mit seiner vibrierenden
Klinge zwischen die anderen Schriftzeichen fährt. - Michel Leiris, Die Spielregel I. Streichungen. München 1982
(zuerst 1948)
Zeichendeuten (2) Sie fragte mich: ,Was hat sie
dir denn gesagt, und was für Zeichen hat sie dir gemacht?'
Ich erwiderte: ,Sie hat nichts gesagt, sondern sie hat nur ihren Daumen
in den Mund gesteckt, dann Zeigefinger
und Mittelfinger zusammengetan und auf ihre
Brust gelegt und nach unten gedeutet. Daraufhat sie ihren Kopf wieder zurückgezogen
und das Fenster geschlossen, und ich habe sie nicht mehr gesehen. Aber sie hat
mein Herz mit sich genommen. Bis zum Sonnenuntergänge habe ich noch dort gesessen
und gewartet, daß sie wieder aus dem Fenster schauen möchte; allein sie tat
es nicht. Zuletzt verließ ich in meiner Verzweiflung jenen Ort und kam nach
Hause. Das ist meine Geschichte. Nun bitte ich dich, hilf mir in meinem Elend!'
Da hob sie ihr Haupt zu mir empor und sagte: ,Lieber Vetter, selbst wenn du
mein Auge verlangtest, so würde ich es für dich mir unter den Lidern
herausreißen. Ich kann nicht anders, ich muß dir zu deinem und ihr zu ihrem
Ziele verhelfen. Denn wisse, sie ist in Liebe zu dir entbrannt wie du zu ihr!'
,Wie sind denn ihre Zeichen zu deuten?' fragte ich. ' Aziza antwortete: ,Daß
sie den Daumen in den Mund steckte, bedeutet, du seist bei ihr so viel wert
wie ihre Seele im Vergleich zu ihrem Leibe, und sie sei fest entschlossen, sich
mit dir zu vereinen. Das Tuch bedeutet den Gruß der Liebenden an die Gehebten,
das Blatt ist ein Zeichen dafür, daß ihre Seele ganz an dir hängt. Dadurch aber,
daß sie die beiden Finger auf ihren Busen zwischen dieBrüste legte, will siedir
sagen: Komm nach zwei Tagen hierher, auf daß mein Leid bei deinem Anblick weiche!
Wisse nämlich, mein Vetter, sie liebt dich, und sie vertraut auf dich. So weit
kann ich ihre Zeichen deuten. Ja, könnte ich frei ein und aus gehen, so würde
ich euch beide gar bald vereinen und den Saum meines Gewandes über euch decken.'
- (1001)
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