Sie machte die Geste, die das Trugbild herbeizauberte. Vor den Augen der
leichtgläubigen Druiden erschien der See Lomond
mit seinen dreihundertsechzig Inseln. Am Ufer spazierten Barden
in Scharen und entlockten ihren kleinen Harfen klägliche Töne, dazu sangen sie
auswendig gelernte Verse, deren Sinn sie nicht verstanden. Plötzlich ließ sich
auf jeder der Felseninseln ein Adler nieder, dann stiegen die Adler auf und
flogen alle zusammen davon. Das Trugbild verschwand.
Die Druiden umarmten sich vor Freude über ihre hellseherischen Fähigkeiten und
sangen, wahrend die unzüchtige Fee über ihre Leichtgläubigkeit
lachte. - (
apol
)
»Sind Sie gekommen, um sich zu erkundigen, ob Ihr Mädchen Sie noch liebt, Herr Beamter?« fragte sie mit einer tiefen, kehligen Stimme. »Oder hat Ihr Meister Sie geschickt, damit Sie herausfinden, ob ich Hexerei praktiziere, die Ihre Gesetze verbieten?« Sie sprach ein fehlerfreies Chinesisch. Als Ma Jung sie verblüfft anstarrte, fuhr sie fort: »Ich sah Sie heute morgen, Herr Beamter, in Ihrer Amtstracht; Sie folgten Ihrem Vorgesetzten, dem bärtigen Richter.«
»Sie haben scharfe Augen!« murmelte Ma Jung. Er rückte seinen Schemel dichter an das heruntergebrannte Feuer. Er wußte nicht, wie er beginnen sollte.
»Sprechen Sie, was führt Sie hierher? Ich verstecke keine gestohlenen Waren. Überzeugen Sie sich selbst!«
Sie schürte das Feuer und deutete mit dem Stab in die Ecke des Zimmers.
Ma Jung stockte der Atem. Was er für einen Berg Abfall gehalten hatte, entpuppte sich als ein Haufen menschlicher Knochen. Zwei Schädel schienen ihn zähnefletschend anzugrinsen. Oben auf den Tierhäuten lagen mehrere Oberschenkelknochen neben einem zerbrochenen, vom Alter geschwärzten menschlichen Becken.
»Das ist ja ein verdammter Friedhof!« rief er schaudernd aus,
»Leben wir nicht auf einem Friedhof, immer und überall?« spottete Tala. »Die Toten sind unendlich viel zahlreicher als die Lebenden. Wir, die Lebenden, sind nur geduldet. Ein Grund, sich mit den Toten gutzustellen, Herr Beamter! Was führt Sie nun also hierher?«
Ma Jung holte tief Luft. Bei dieser ungewöhnlichen Frau hatte es keinen Zweck, um den heißen Brei herumzureden. So sagte er kurz: »Ein Vagabund namens Seng-san wurde in der vergangenen Nacht draußen vor dem Osttor ermordet. Er...«
»Sie vergeuden Ihre Zeit«, unterbrach sie ihn. »Ich weiß nur, was hier in diesem Viertel passiert. Und jenseits der Grenze. Ich weiß nichts darüber, was am anderen Ende der Stadt passiert. Wenn Sie jedoch etwas über das Mädchen wissen wollen, an das Sie vorhin gerade dachten, könnte ich Ihnen vielleicht helfen.« Als sie seinen verwirrten Blick sah, fuhr sie rasch fort: »Ich meine nicht die kleine Hure Talbi, Herr Beamter, sondern die andere, die den Namen eines Edelsteins trägt.«
»Wenn Sie wissen ... wer Jade ist und wo...« stotterte Ma Jung.
»Ich nicht. Aber ich werde meinen Gemahl fragen.«
Sie erhob sich und schüttelte den Umhang von ihren Schultern. Ma Jung bekam noch einen Schock. Ihr schlanker, vollkommener Körper war splitternackt.
Er starrte sie mit offenem Mund an, gelähmt von einem tiefen, namenlosen Entsetzen. Denn diese weiße, völlig haarlose Gestalt erschien ihm so unwirklich, dem gewöhnlichen Leben so fremd, daß ihre üppigen Kurven, weit davon entfernt, seine Begierde zu erregen, ihn voller Angst vor dem Unbekannten zurückweichen ließen. Als es ihm mit einer gewaltigen Anstrengung gelang, seine Augen abzuwenden, sah er, daß sie nicht auf einem Stuhl, sondern auf einer Pyramide von Schädeln gesessen hatte.
»Ja«, sagte sie mit ihrer kalten, unpersönlichen Stimme, »das ist der Anfang,
befreit von allen törichten Träumereien, von all den geliebten Illusionen.«
Dann, auf die Ansammlung von Schädeln deutend, fügte sie hinzu: »Und dies ist
das Ende, befreit von allen leeren Versprechungen und allen eitlen Hoffnungen.«
stieß den Haufen mit ihrem nackten Fuß um. Die Schädel rollten polternd über
den Boden. - Robert
van Gulik, Das Phantom im Tempel. Zürich 1989
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