Wunder In den Einöden Afrikas sieht man zuweilen Menschengestalten vor sich, die augenblicklich wieder verschwinden. Diese und ähnliche Gestalten von Menschen erschuf die erfinderische Natur sich zum Scherze, uns aber zum Wunder. - (pli)

Wunder (2)  Die Hyazinthe ist ein Wunder und kann nicht nur sie selber sein. Ihr Rätsel enthält den unheilbaren Schmerz eines Gottes, das Denkmal eines Todes und einer Klage. Die Tazette hat der Herr der Unterwelt zum ersten Male als ein so überwältigendes Wunder aus dem Abgrunde steigen lassen, daß die herrliche Tänzerin, Demeters Kind, trotz aller Warnung vor den berückenden Blüten des Hades, aufschreiend nach ihr griff und dem Gotte verfiel. Die Narzisse, im Süden wild an Bachrändern, ist der Schatten eines so schönen Wesens, daß es des Blickes in sein eigenes Spiegelbild im Wasser sich nicht ersättigen konnte und mit ihm verfließend an ihm verging. Die Botschaft der Blume ist der Tod, die Botschaft der Blume ist das Leben, das Überleben, das Nachleben und Nachbleiben, das Wiederaufleben eines Lebens, das den Tod erfahren hat, den Tod nicht vergessen kann, ihn als das Herz des Menschen erleidet, ihn als der menschliche Geist überwinder, durch ein Neu-Erschaffen aus dem Schmerze heraus, durch das Aufbauen eines Bildes über dem Bilde. Die fünf Purpurflecken, die auf den Blumenblättern der Prophetenblume Arnebia während des Aufblühens erscheinen, um dann zu verschwinden, sind Tropfen Engelsblut, während des Kampfes zwischen Himmel und Hölle um das Unsterbliche des Propheten auf die Erde gefallen und von einer Blume aufgefangen: sie kehren zum Himmel zurück. - (garten)

Wunder (3)  Lasse ein wenig Safrans in einem Leinewand-Büntelgen ein Weilgen in etwas frischen Wassers hängen, bis das Wasser sich wohl davon gefärbet; denn das Weiße von einem Ei mit diesem gefärbten Wasser vermischt und einmal oder etliche untereinander mit dem Finger gerührt, geklopft oder geschüttelt. Hernach miteinander in ein helles Trink-, Kelch- oder Uringlas, so fast voll frischen Wassers, geschüttet und einige Zeit lang, oder über Nacht, ruhig stehenlassen, so wirst du Wunder sehen.  - (zauber)

Wunder (4)    In einer Welt, wo alles einen Hang zum Symbolischen hat, verlangt das Schicksal der Leiche des heiligen Franz Xaver nach einer Deutung. Jahrhunderte lang blieb der Leib unversehrt in dem trägen, malariaverseuchten Klima; er kam unversehrt aus einer Kalkgrube hervor; hielt sich auf im regnerischen Malaysia; fuhr übers Meer; und wurde in Goa glorreich auf einen toten Marmorthron erhoben. In höfischen Abbildungen treten seine Wunder und seine barmherzigen Taten um ihn: geborgene Schiffbrüchige, erweckte Tote, betreute Aussätzige. In dem immer älter werdenden Leichnam blieb das Blut rot und lebendig. Die Leiche erschien als das Meisterstück einer manieristischen Phantasie innerhalb einer barocken Erfindung; eine Hyperbel, die sich unter Metaphern verirrt hat; ein »concetto«, ein Einfall, eine Pointe. Aber jetzt ist es nicht mehr so: Seit einigen Jahrzehnten schon ist der Leib des heiligen Franz Xaver in Auflösung begriffen. Nachdem für die Verwesung die Zeit endgültig vorbei ist, blättert der kostbare Tote ab, zerbröselt langsam, die kompakte Mumie geht in Staub über. Vor einigen Jahren wurde der Leichnam zur Anbetung ausgesetzt: Hunderttausende kamen, sicherlich nicht lauter Katholiken. Es war wohl das letzte Mal, daß man ihn sehen und noch erkennen konnte; das Wunder geht nun seinem Abschluß entgegen. - Giorgio Manganelli, Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)

Wunder (5)

Wieviel Dispute! Soviel ich hörte,
gings um nichts. Als wärs der Streit
von Fra Cocuzza und dem alten Simeone.
 Hier ist die Sache, klipp und klar.

Taddäus, Pius, Leo schritten
Arm in Arm dahin zu dritten
als plötzlich da von einem Dache
ein Ziegel auf Taddäus krachte.

Zurück sprang Leo und zu Pius sprach er
›Wir wolln uns Gott weihn, der fürwahr
ein großes Wunder heut vollbrachte‹

Taddäus, der in einer Lache
von Blut lag, sagte barsch:
›Ein Wunder das? Leckt mich am .. .

- Belli, Die entgegengesetzten Meinungen, nach: Leonardo Sciascia, Schwarz auf schwarz. München 1991 (dtv 11328, zuerst 1979)

Wunder (6)  »Man hat  ihn seliggesprochen. Er soll zahllose Wunder vollbrache haben. Um das Jahr vierzehnhundert fand ein Erdbeben statt. Die Bevölkerung wurde von Panik ergriffen und flüchtete sich in die Kirche, um den Schutz Belcores zu erflehen. Beim nächsten Erdstoß stürzte die Kirche ein und begrub alle unter sich ...«

»Ein seltsames Wunder ...«

»Die kirchlichen Behörden befanden, daß es sich um ein neuerliches Zeichen seines wohltätigen Wirkens gehandelt habe. Alle achthundert Einwohner, die in der Kirche ums Leben kamen, erhielten den Ablaß der Sünden. Der selige Belcore hatte das Erdbeben dazu ausgenutzt, sie vereint ins Paradies zu führen.«  - Giuseppe Fava, Ehrenwerte Leute. Zürich 2003 (zuerst 1975)

Wunder (7)  Herr, ich weiß, am Ende eines Dinges steht nicht sein Superlativ, sondern sein Gegensatz, und die Erkenntnisse gehen zum Wahnsinn. Ich bin geschaffen zu erkennen und zu schauen, aber Deine Welt ist hierzu nicht gemacht; sie entzieht sich uns; wir sind weltverlassen. Suchen wir Dich, o Gott, dann sterben wir in der lautlosen Erstarrung, und es ist keine Erkenntnis, sondern Du bist das Ende.

Herr, laß mich einmal sagen, ich schuf aus mir.

Sieh mich an, ich bin ein Ende, laß mich eine unabhängige Tat, ein Wunder tun. O Nacht der Verwandlung, wann kommst du, wo ich diesen Körper vergesse, ja, ihn abstreife, und die Dinge anderes bedeuten und anderes sind, denn je sonst; die Glieder werden selbständig, die Teile beginnen zu reden. Die Auflösung, sie ist die Verwandlung und sei mir ein Anfang.   - (beb)

Wunder (7) Seit Felix Faure war ich für jeden da, der mich angefleht hat. Hübsche, kahl geschorene Liebhaber, sie jedenfalls lieben mich ohne Hintergedanken. Sie fürchten weder die Untreue noch meine Krankheit. Manche prägen mir ein Zeichen auf den Körper mit ihren Zähnen, was wollen Sie, Touristen schreiben ja auch ihre Namen auf die Treppen historischer Denkmäler. Manche fluchen schrecklich. Manche wollen ein unvergängliches Andenken hinterlassen. Ich weiß ja, daß es unmöglich ist, und ich lächle, geschlagen, gezwickt, gebissen, unterworfen; ich brauche nur zu sagen, daß es schnell gehen muß. Dann vollzieht sich im frühen Morgengrauen, während die Wärter durch das Schlüsselloch spähen, wieder einmal dieses Wunderbare, und ich singe das Lied, das ich liebe und das zart von Flieder spricht.    - (lib)

Glaube Geschehen Unmoeglichkeit
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VB
AberglaubeMagie
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