Wollust-Manifest

Futuristisches Manifest der Wollust

ANTWORT an die unredlichen Journalisten, die Sätze verstümmeln, um die Idee lächerlich zu machen; Antwort für die, die denken, was ich zu sagen gewagt habe; Antwort denjenigen, für die Wollust nur Sünde ist; an all diejenigen, die, so wie sie im Stolz nur die Eitelkeit, in der Wollust nur das Laster anstreben.

Die Wollust, außerhalb jedes moralischen Konzepts stehend und als wesentliches Element des Dynamismus des Lebens begriffen, ist eine Kraft.

Für eine starke Rasse ist die Wollust ebensowenig wie der Stolz eine Todsünde. Wie der Stolz ist die Wollust eine Initiations-Tugend, ein Reservoir, aus dem sich die Energien nähren.

Die Wollust ist der Ausdruck eines Wesens, das über sich selbst hinaus geworfen wird; sie ist die leidvolle Lust der Vollendung des Fleisches, das freudige Leid eines Aufblühens; sie ist die fleischliche Vereinigung, gleich welche Geheimnisse die Wesen vereinen; sie ist die sensorische und sinnliche Synthese eines Wesens bei der größtmöglichen Befreiung seines Geistes; sie ist die Kommunion einer Parzelle der Menschheit mit dem gesamten Gefühlsempfinden der Erde; sie ist das panische Erschauern einer Parzelle der Erde.

Die Wollust ist die fleischliche Suche des Unbekannten, so wie die Vergeistigung dessen spirituelle Suche bildet. Die Wollust ist die Geste des Schaffens, sie ist die Schöpfung.

Die Kunst und der Krieg sind die beiden großen Manifestationen der Sensualität; die Wollust ist ihre Blume. Ein rein vergeistigtes oder ein exklusiv wollüstiges Volk würden die gleiche Dekadenz erfahren: die Sterilität.

Die Wollust stachelt die Energien an und entfesselt die Kräfte. Sie trieb die primitiven Menschen wegen des Ehrgeizes, der Frau die Trophäen der Besiegten heimzubringen, unbarmherzig zum Sieg. Heute treibt sie die großen Geschäftsleute der Banken, der Presse oder des internationalen Handels, das Gold zu vervielfachen, Zentren zu schaffen, Energien zu verbrauchen, die Massen zu begeistern, um das Objekt ihrer Wollust zu schmücken, zu mehren und zu verherrlichen. Diese überarbeiteten, aber starken Männer finden Zeit für die Wollust, den wesentlichen Motor ihrer Aktionen und der damit ausgelösten Reaktionen, die sich auf die Massen und die Welten auswirken.

Angesichts der Wollust gilt es, bewußt zu agieren. Man muß aus der Wollust das machen, was ein intelligentes und raffiniertes Wesen aus sich selbst und seinem Leben macht; man muß aus der Wollust ein Kunstwerk machen. Die Ahnungslosigkeit oder die Verwirrung zu spielen, um eine Liebesgeste zu erklären, ist Heuchelei, Schwäche oder Dummheit. Man muß das Fleisch ebenso bewußt wie alles andere auch wollen.

Es gilt, die Wollust aller sentimentalen Schleier zu entkleiden, die sie deformieren. Nur aus Feigheit hat man all diese Schleier über sie geworfen, denn eine unerregte Gefühlsbe-wegung ist ausreichend. Man ruht sich bei ihr aus, d.h. man verringert sich.

Jedesmal, wenn bei einem jungen und gesunden Wesen Wollust und Gefühl in Gegensatz geraten, trägt die Wollust den Sieg davon. Die Sentimentalität folgt den Moden, die Wollust ist ewig. Die Wollust triumphiert, denn sie ist die freudige Exaltation, die das Wesen über sich selbst hinaushebt, ist die Freude des Besitzes und des Herrschens, der fortwährende Sieg, aus dem die immerwährende Schlacht entsteht, der betörendste und sicherste Eroberungsrausch. Und die Gewißheit dieser Eroberung ist zeitlich befristet, d.h. unabläßlich neu zu beginnen.

Die Wollust ist eine Kraft, denn sie verfeinert den Geist, indem sie die Verwirrung des Fleisches brodeln läßt. Aus einem gesunden und starken Fleisch, ohne Zärtlichkeit, sprudelt der Geist hellsichtig und klar. Nur die Schwachen und die Kranken versinken darin und verlieren die Kraft.

Die Wollust ist eine Kraft, denn sie tötet die Schwachen und erhöht die Starken, so hilft sie bei der Selektion.

Die Wollust ist schließlich deshalb eine Kraft, weil sie nie zur Banalisierung des Definitiven und zu der Sicherheit führt, die die beruhigende Sentimentalität vermittelt. Die Wollust ist die fortwährende, nie gewonnene Schlacht. Nach dem vorübergehenden Triumph, gerade im ephemeren Triumph, treibt das wiederentstehende Unbefriedigtsein in einem orgiastischen Willen das Wesen dazu, sich zu entfalten und sich zu übertreffen.

Die Wollust ist das für den Körper, was das ideale Ziel für den Geist ist: die wunderbare, unablässig umarmte und nie gefangene Chimäre, die die jungen Wesen und die lüsternen, von ihr berauschten Wesen ohne Unterlaß suchen.

Die Wollust ist eine Kraft.   - Valentine de Saint-Point [Pseud.] 1913, nach: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Hg. Wolfgang Asholt, Walter Fähnders. Stuttgart Weimar 1995

 

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