olkenbilder Es will ihr scheinen, als betrachtete sie überhaupt zum ersten Male in ihrem Leben die Wolken, die an diesem Tage von großer Schönheit sind. Sie gerät in einen Zustand der Interpretierung, zugleich der Halluzination. Sie beginnt in den Wolken mit großer Deutlichkeit Bilder zu sehen: die Vergangenheit der ganzen Menschheitsgeschichte zieht an ihren Augen vorüber. Alle Völker der Erde, die jemals in den Jahrtausenden gelebt haben, erscheinen am Himmel. Daß es ihr erlaubt ist, dieses Schauspiel zu sehen, gibt ihr das Gefühl auserwählt zu sein.
Sie weiß, daß nur an diesem einzigen Tage diese Erscheinungen sichtbar werden können, denn dieser Tag mit seinem Datum, das so oft die 6 wiederholt, ist dem Tode gewidmet.
Alles was jemals auf Erden gelebt hat, Menschen und Tiere, hat die einmalige Chance, von einer kleinen Zahl von eingeweihten Personen betrachtet zu werden. Sie ist versucht, an die Möglichkeit eines Paradises im Himmel zu glauben, an einen Ort, wo die Seele jedes einzelnen Wesens, das gelebt hat, bewahrt wird, in einem neuen, ewigen und sehr luftigen Leben.
Diese Seelen, aus Wolken gebildet, zeigen das naturgetreue Porträt der toten Menschen und Tiere im Augenblick ihres Sterbens. Was seltsam ist, das ist die Tatsache, daß auch im Paradia kein Frieden herrscht, sonswern daß hier die Kämpfe fortgesetzt werden. Die verschiedenen Rassen aus den verschiedenen Epochen kämpfen im Himmel miteinander, verletzen und töten sich. Aus den tiefen, geschlagenen Wunden strömt mit dem weißen Wolkenblut, das über den blauen Himmel fließt, ein neues Wesen. Die ständigen Wolkenseelen-Geburten vollziehen sich auch aus Nasen und Mündern, aus allen Öffnungen der sich ständig verändernden Leiber.
Diese Bilder sind dramatisch.
Von ihrem Platz aus sieht sie nicht den obersten Teil des Himmels, weil die Türe, die zur Terrasse hinausführt, nicht hoch genug ist. In diesem verdeckten Raum vermutet sie, wie in alten Tagen, Gott. Als sei es heute verboten, ihn zu betrachten. Darum läßt sie sich jetzt tiefer in die Kissen hineingleiten und biegt den Kopf etwas zurück. In dieser neuen Haltung hat sie einige Zentimeter gewonnen, und sie entdeckt dort oben eine riesige Hand, die sich wie schützend über die Erde ausstreckt. Die Hand Gottes? Warum zeigt er ihr nicht sein Gesicht? Aus der Hand werden Kopf und Hals eines Krokodils mit einem einzigen bösen Auge. Das Krokodil verwandelt sich zurück in die Hand, und die Hand wird danach von neuem zum Krokodil. Sie begreift, daß das Krokodil den Himmel bewacht.
Noch einmal verändert sie ihre Körperhaltung, um zu sehen, was sich über
dem Krokodil befindet. Sie entdeckt das kleine Gesicht eines sehr begabten Schauspielers,
ein Gesicht, das sich ständig verändert. Ist Gott ein Clown? - Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Frankfurt
am Main - Berlin 1977
Wolkenbilder (2)
Wolkenbilder (3)
Wolkenbilder
(4) Baudelaire am
Schluß seines ersten Gedichts des ›Spleen de Paris‹ scheint die Auslassungspunkte
nur deshalb gehäuft zu haben: »Ich liebe die Wolken. .. die Wolken, die vorbeiziehn...
dort, in der Ferne... in der Ferne. ..die wunderbaren "Wolken!« damit die
Wolken wirklich vor unseren Augen vorbeiziehen, damit sie wie Punkte zwischen
Himmel und Erde schweben. Denn das Betrachten der Wolken von der Erde aus ist
die beste Art, seine eigenen Wünsche zu befragen. Gemeinhin glaubt man zu Unrecht,
die Bedeutung einer berühmten dramatischen Szene durch ein mitleidiges Lächeln
zu erschöpfen, wenn der arme Polonius, um Hamlets Mißfallen nicht zu erregen,
ihm bereitwillig beipflichtet, daß eine Wolke die Gestalt eines Kamels...
oder eines Wiesels... oder eines Walfisches
habe. Meines Erachtens sollte man sich dieser Stelle in einer gänzlich anderen
Gesinnung nähern, geht es hier in Wahrheit doch um die tieferen seelischen Kräfte,
die das ganze Stück hindurch Hamlets Verhalten bestimmen. Es ist gewiß keineswegs
ein Zufall, daß die Namen dieser drei Tiere, und keiner anderen, da auf seine
Lippen kommen. Das Stoßartige, das den Übergang von einem zum andern markiert,
verrät genugsam, in welcher äußersten Erregung der Held sich befindet. Bei genauer
Untersuchung würde dieses tierische Wesen, das nacheinander drei Gestalten annimmt,
wahrscheinlich den gleichen Reichtum an verborgener Bedeutung offenbaren wie
der Geier, den Oskar Pfister in der berühmten Heiligen Anna selbdritt entdeckt
und der uns Freuds bewundernswürdigen Essay >Eine Kindheitserinnerung des
Leonardo da Vinci< eingetragen hat. Wäre das Saft- und Kraftlose in der Person
des Polonius nicht bereits herausgearbeitet worden, so lieferten seine Antworten
anläßlich der Wolke übrigens kaum Gelegenheit, es so unverhüllt zutage treten
zu lassen. Die Lehre Leonardos, der seine Schüler dazu anhält, in ihren Bildern
das nachzuahmen, was sich (bemerkenswert Einheitliches und jedem einzelnen Eigentümliches)
bei längerer Betrachtung auf einer alten Mauer abzeichnet, ist noch längst nicht
verstanden worden. Das ganze Problem des Übergangs von der Subjektivität zur
Objektivität ist darin implicite gelöst, und die Tragweite dieser Lösung
übertrifft an Wichtigkeit für den Menschen bei weitem die einer bloßen Technik,
und wäre es die Technik der Inspiration selber.
Und eben darum hat sie den Surrealismus beschäftigt. Der Surrealismus
ist nicht von dieser Lehre ausgegangen, er ist ihr auf seinem Wege wiederbegegnet
und hat mir ihr die Möglichkeit entdeckt, sie auf alle übrigen Bereiche auszudehnen,
die nicht der Malerei angehören. Das Gemeinsame, das uns erlaubt, die neuen
Bildassoziationen des Dichters, des Künstlers, des Gelehrten miteinander zu
vergleichen, liegt darin, daß sie, um aufzutreten, eines Bildschirms von besonderer
Beschaffenheit bedürfen, mag es sich nun konkret um eine verfallene Mauer, eine
Wolke oder einen beliebigen anderen Gegenstand handeln: ein fortklingender Ton
und, als unbestimmter, durch nichts zu ersetzender Träger, der Satz, den singen
zu hören uns ein Bedürfnis war. Das Merkwürdigste ist, daß ein solches Tun,
das notwendigerweise die rückhaltlose Bereitwilligkeit zu einer Passivität von
kürzerer oder längerer Dauer voraussetzt, sich keineswegs nur auf die sinnliche
Welt beschränkte, sondern darüberhinaus in die Tiefen der Seele hinabreichen
konnte. Die Chance, das Glück des Gelehrten, des Künstlers, wenn sie finden,
kann nur als ein Sonderfall des menschlichen Glücks verstanden werden, von dem
es sich seinem Wesen nach nicht unterscheidet. Von dem Tage an wird der Mensch
sich zu lenken verstehen, an dem er wie der Maler bereit ist, ohne irgend verändernd
einzugreifen, das nachzubilden, was ein geeigneter Schirm ihm im voraus von
seinen Handlungen zu erkennen gibt. Dieser Schirm ist vorhanden. In jedem Leben
gibt es solche homogenen Komplexe, die etwas Rissiges, Wolkiges haben und die
jeder nur unverwandt zu betrachten braucht, um in der eigenen Zukunft zu lesen.
Er überlasse sich dem Wirbel, er verfolge zu rückschauend die Spur jener Geschehnisse,
die ihm vor allen anderen flüchtig und dunkel erschienen sind, jener, die ihn
zuinnerst zerrissen haben. Dort - wenn die Befragung der Mühe wert ist - werden,
nachdem alle logischen Prinzipien in die Flucht geschlagen sind, die Mächte
des objektiven Zufalls ihm entgegenkommen, die der Wahrscheinlichkeit
spotten. Auf diesem Schirm steht, was der Mensch wissen möchte, in phosphoreszierenden
Buchstaben geschrieben, in Buchstaben der Begierde.
- André Breton, L'Amour fou. Frankfurt am Main 1983 (zuerst 1937)
Wolkenbilder (4)
Wolkenbilder
(5) Der lange, wolkige Nachmittag des närrischen i. April
schwand langsam dahin. Jene Wolkenberge, die sich über den fernen walisischen
Hügelketten bildeten, wurden immer bedrohlicher. Lange schwankende Arme, ausgestreckte
Hakenfinger, verhüllte Schultern, wippende Federn, weithin flatternde zerfetzte
Banner, hochgereckte Schwerter und ungeheure Äxte türmten sich über dem Meeresarrn
im Westen und rückten weder vor noch zerstreuten sie sich! In diesem unheilverkündenden
Schweben und Verharren glichen siejcncn Geistern der Verstorbenen auf den uralten
Britischen Inseln das Altertums, die Plutarch, den alten weitgereisten
Demetrius zitierend, erwähnt: »Demetrius sagte des weiteren, daß von den Inseln
um Britannien viele unbewohnt seien... Er begab sich auf die Inseln, die jenen
unbewohnten am nächsten lagen, und fand sie von einigen Bewohnern belebt...
welche jedenfalls in den Augen der Briten heilig und unverletzlich waren. Bald
nach seiner Ankunft kam es zu einem großen Aufruhr in der Atmosphäre, von vielen
bedrohlichen Vorzeichen begleitet, von Winden, die sich zu Wirbelstürmen auswuchsen,
und von herabfallenden feurigen Donnerkeilen. Als er vorbei war, sagten die
Inselbewohner, jemand von den Hohen und Mächtigen sei dahingeschieden. .. dazu
gäbe es dort, sagten sie, noch eine Insel, auf der Kronos gefangen sei, von
Briareus in seinem Schlaf bewacht, denn, wie sie es darstellten, sei Schlaf
die für Kronos geschmiedete Fessel. Sie fügen noch hinzu, daß um ihn viele Gottheiten
sind, seine Pagen und Knechte.« - (cowp)
Wolkenbild
(6) Die Chinesen glauben
an die Drachen mehr als an andere Gottheiten,
denn häufig sind Drachen in den veränderlichen Wolken zu sehen, In gleicher
Weise hatte Shakespeare bemerkt, es gebe drachenartige Wolken (»sometimes
we see a cloud that's dragonish«). - (bo)
Wolkenbilder
(7) Als ich vom Ball nach Hause kam, setzte ich mich ans
Fenster und betrachtete den Himmel: die Wolken, dünkt mich, waren riesige Häupter
alter Männer, die um einen Tisch saßen, und man brachte ihnen einen weißen Vogel
im Schmuck seines Gefieders. Ein breiter Strom floß durch den Himmel. Einer
der Alten senkte die Augen zu mir, schon schickte er sich an, zu mir zu sprechen,
als der Zauber zerstob und man nur noch die reinen schimmernden Gestirne sah.
- Max Jacob, Der
Würfelbecher. Frankfurt am Main 1968 (zuerst 1917/23)
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