olfsjunge   Es war in der Trockenzeit, doch welcher Monat, das konnte er nicht genau sagen. Er war mit dem Fahrrad zu seinem Cousin gefahren, der in einem Dorf hinter dem Wald von Musafirkhana lebte, etwa zwanzig Meilen von Sultanpur entfernt. Auf dem Weg zurück zur Hauptstraße, einem Pfad, der durch ein Dickicht aus Bambus und Dombüschen geschnitten war, hörte er hinter einem der Büsche ein Quieken. Er schlich sich heran und sah den Jungen, wie er mit vier oder fünf Wolfsjungen spielte. Er betonte nachdrücklich, daß es weder Hunde noch Schakale gewesen waren, sondern Wölfe.

Der Junge hatte sehr dunkle Haut, zu Krallen gewachsene Fingernägel, einen Wust verfilzten Haars und Schwielen an Händen, den Ellbogen und den Knien. Einige seiner Zähne waren abgebrochen und bestanden nur noch aus scharfen Spitzen. Er lief schnell auf allen vieren, konnte jedoch mit den Wolfsjungen, die Schutz suchend davonstürmten, nicht Schritt halten. Die Wolfsmutter war nicht zu sehen. Der thakur holte den Jungen ein und wurde in die Hand gebissen. Doch gelang es ihm, ihn in sein Handtuch zu packen, und dann band er ihn auf dem Gepäckträger seines Fahrrads fest und fuhr nach Hause.

Zuerst verkroch sich Shamdev vor Menschen und spielte nur mit Hunden. Er haßte das Sonnenlicht und lag gern zusammengerollt an schattigen Plätzen. Nach Einbruch der Dunkelheit wurde er unruhig, und sie mußten ihn anbinden, um zu verhindern, daß er den Schakalen nachlief, die nachts rings um das Dorf herum heulten. Wenn irgend jemand sich schnitt, nahm er sofort den Blutgeruch wahr und kam angesaust. Er fing Hühner und aß sie lebendig, einschließlich der Eingeweide. Später, nachdem er seine eigene Zeichensprache entwickelt hatte, pflegte er die Daumen zu kreuzen und die Hände zusammenzuschlagen — das bedeutete: »Huhn« oder »Essen«.

Schließlich beschloß der thakur, ihm das rohe Fleisch abzugewöhnen. Er ernährte ihn mit Reis, Dal und Chapaties, doch diese Zwangskost machte ihn krank. Er fand Gefallen daran, Erde zu essen, seine Brust schwoll an, und sie begannen um sein Leben zu fürchten. Erst allmählich gewöhnte er sich an die neue Kost. Nach fünf Monaten fing er an, auf seinen Beinen zu stehen, zwei Jahre später erledigte er Gelegenheitsarbeiten, zum Beispiel brachte er den Kühen Stroh. - Bruce Chatwin, Was mache ich hier. Frankfurt am Main 1993 (Fischer - Tb. 10362, zuerst 1989)

Wolfsjunge (2) Zoologisch betrachtet stehen der Aufzucht eines Säuglings durch eine indische Wölfin nahezu unüberwindliche Hindernisse im Wege. Zunächst müßte sie ihre eigene Brut verlieren, um ihre Milch zu behalten und sich nach einem Ersatzjungen umzusehen. Sie müßte das Baby wittern und, statt es zu verspeisen, zulassen, daß seine Schreie ihren Hungertrieb verdrängen und ihre mütterlichen Instinkte wecken. Und schließlich könnte sie, da die Zeit der Abhängigkeit eines Wolfsjungen sehr viel kürzer ist als die eines Kindes, gut und gern drei eigene Würfe haben, bevor ihr adoptiertes Kind sich allein durchschlagen könnte. Sie müßte es außerdem beschützen und anderen Wölfen, bei denen der Hunger die Oberhand gewinnen könnte, »Fernbleiben!« signalisieren.

Eine andere Erklärung lautet, daß die Wolfsjungen oder Wolfsmädchen autistische Kinder sind, die von ihren Eltern ausgesetzt werden, wenn diese sich über ihren Zustand klarwerden; die im Wald irgendwie überleben und dann, wenn sie gerettet werden, sich wie Wölfe zu verhalten scheinen. Oder könnte es sein, daß die Wölfe in der Gegend von Sultanpur ein natürliches Gefühl der Verbundenheit mit dem Menschen haben?  - Bruce Chatwin, Was mache ich hier. Frankfurt am Main 1993 (Fischer - Tb. 10362, zuerst 1989)

Kinder Wolf

 

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