ohngemeinschaft    Die Klavierlehrerin Erika Kohut stürzt wie ein Wirbelsturm in die Wohnung, die sie mit ihrer Mutter teilt. Die Mutter nennt Erika gern ihren kleinen Wirbelwind, denn das Kind bewegt sich manchmal extrem geschwind. Es trachtet danach, der Mutter zu entkommen. Erika geht auf das Ende der Dreißig zu. Die Mutter könnte, was ihr Alter betrifft, leicht Erikas Großmutter sein. Nach vielen harten Ehejahren erst kam Erika damals auf die Welt. Sofort gab der Vater den Stab an seine Tochter weiter und trat ab. Erika trat auf, der Vater ab. Heute ist Erika flink durch Not geworden. Einem Schwärm herbstlicher Blätter gleich, schießt sie durch die Wohnungstür und bemüht sich, in ihr Zimmer zu gelangen, ohne gesehen zu werden. Doch da steht schon die Mama groß davor und stellt Erika. Zur Rede und an die Wand, Inquisitor und Erschießungskommando in einer Person, in Staat und Familie einstimmig als Mutter anerkannt. Die Mutter forscht, weshalb Erika erst jetzt, so spät, nach Hause finde? Der letzte Schüler ist bereits vor drei Stunden heimgegangen, von Erika mit Hohn überhäuft. Du glaubst wohl, ich erfahre nicht, wo du gewesen bist, Erika. Ein Kind steht seiner Mutter unaufgefordert Antwort, die ihm jedoch nicht geglaubt wird, weil das Kind gern lügt. Die Mutter wartet noch, aber nur so lange, bis sie eins zwei drei gezählt hat.  - Elfriede Jelinek, Die Klavierspielerin. Reinbek bei Hamburg 1989 (zuerst 1983)

Wohngemeinschaft (2) Die Wohnung war stets unaufgeräumt, er lag immer im Wohnzimmer und las von morgens bis abends Bücher, sie saß in der Küche, kaute Kaugummi und blätterte dazu stoßweise Illustrierte durch: so verbrachten der Literaturstudent und die junge Frau ohne Beruf den größten Teil des Tages bis zur Abendessenszeit. Sie gingen fast nie aus dem Haus, weil sie kaum Geld ausgeben konnten, hin und wieder aber hörten sie auf die Geräusche der Außenwelt und nahmen wahr, daß es draußen regnete, daß der Sommer zu Ende war, daß es neblig wurde und daß es Spätherbst war.

Sie gingen abends bald zu Bett, schliefen viel und hatten lange, lange Träume. Für beide war Schlafen etwas Leichtes, das Leichteste von der Welt.

An manchen Abenden erschien der Student stammelnd im Zimmer der jungen Frau, getrieben von seinem jugendlichen Verlangen, sie zu besteigen, und sie nahm ihn auf in ihr Bett oder auch nicht, je nach Lust und Laune des Tages.

An den grauen Herbstnachmittagen wurde es die junge Frau manchmal leid, in ihren Illustrierten herumzublättern und Kaugummi zu kauen, dann setzte sie sich ins Wohnzimmer und schaute dem Studenten beim Bücherlesen zu. Die Tätigkeit des Bücherlesens machte sie neugierig, denn sie selbst schaffte es nie, eine Seite zu lesen, auf der so dicht gedrängt die Wörter standen, ohne daß sie sofort müde wurde, die vielen gleichförmigen gedruckten Zeilen verwirrten sie und erschienen ihr langweilig und nahmen ihr jeglichen Mut zum Lesen. - Gianni Celati, Der wahre Schein. Berlin o. J. (zuerst 1987)

Wohngemeinschaft (3) Betrunken und englische Varietésongs singend, platzten Charisma und Fu in das Zimmer. Mit sich brachten sie einen sabbernden und kranken Bernhardiner, den sie auf der Straße gefunden hatten. Die Abende waren heiß in diesem August.

»O Gott«, sagte Profane in das Telefon: »die tobenden Boys sind wieder da.«

Durch eine offene Tür sah man auf einem Bett einen umherreisenden Rennfahrer liegen; er hieß Murray Sable, schwitzte und schnarchte.

Das Mädchen neben ihm rollte sich weg. Auf ihrem Rücken liegend begann sie einen Dialog, halb träumend, halb wach. Unten auf der Fahrbahn saß jemand auf dem Kühler eines sechsundfünfziger Lincoln und sang vor sich hin:

Oh Mann,
Ich brauche junges Blut
Zum Trinken, Gurgeln und den Mund zu spülen.
Hey, junges Blut, was machst du heute abend .. .?

Werwolfzeit: August.

Rachel küßte die Sprechmuschel an ihrem Ende. Wie konnte man ein Ding küssen?

Der Hund stapfte hinüber in die Küche und fiel mit einem Krachen in Charismas ungefähr zweihundert leere Bierdosen. Charisma sang weiter.

»Ich such eine«, rief Fu aus der Küche. »Gib mir einen Eimer!«

»Schutt das Bier da rein«, meinte Charisma.

»Er sieht ziemlich krank aus.«

»Bier ist das Beste für ihn. Das Beste für einen Hund, der auf den Hund gekommen ist.« Charisma lachte. Nach einem kurzen Augenblick fiel Fu mit ein, glucksend, hysterisch, wie hundert entfesselte Geishas.

»Es ist heiß«, sagte Rachel.

»Es wird kühler werden. Rachel...« Doch ihr Gespräch verhedderte sich. Sein: »Ich möchte...« und ihr: »Bitte...« stießen irgendwo unter der Erde auf halbem Wege zusammen, wurden Geräusch.

Keiner redete. Das Zimmer war dunkel: draußen, jenseits des Hudson, schlichen verstohlen Hitzeblitze über Jersey.

Bald hörte Murray Sables Schnarchen auf, das Mädchen wurde ruhig: in diesem Augenblick war alles plötzlich still, abgesehen vom Schlürfen des Hundes in seinem Biereimer und einem fast unhörbaren Zischen. Die Luftmatratze, auf der Profane schlief, hatte ein kleines Loch. Einmal in der Woche pumpte er sie mit einer Luftpumpe, die Winsome im Klosett aufbewahrte, wieder auf.

»Hast du etwas gesagt?« fragte er.

»Schon gut. Aber was passiert dort unter der Erde? Ich frage mich, ob wir noch dieselben sind, wenn wir am anderen Ende der Leitung wieder auftauchen.«

»Irgend etwas geschieht unter der Stadt«, gab sie zu.

Alligatoren, verrückte Priester, Penner in der U-Bahn. Er dachte an die Nacht, als sie ihn am Busbahnhof in Norfolk angerufen hatte. Wer hatte damals abgehört? Wollte sie ihn damals wirklich zurückhaben, oder war es vielleicht nur die spaßige Idee eines Trolls?

»Ich muß schlafen. Ich habe die zweite Schicht. Rufst du mich Mitternacht an?«

»Natürlich.«

»Gestern habe ich hier den elektrischen Wecker zerschmissen.«

»Du Schlemihl. Sie hassen dich.«

»Sie haben mir den Krieg erklärt«, sagte Profane.

Kriege brechen im August aus. In den gemäßigten Breiten und im zwanzigsten Jahrhundert haben wir diese Tradition. Der August muß nicht besonders heiß sein, die Kriege müssen nicht erklärt werden.

Das Telefon war nun aufgelegt; es sah böse aus, als schmiedete es insgeheim ein Komplott. Profane sprang auf die Luftmatratze. In der Küche schlürfte der Bernhardiner Bier.

»He, ob der kotzt?«

Der Hund übergab sich, laut und furchtbar. Winsome kam aus einem der hinteren Zimmer herein.

»Ich habe deinen Wecker kaputtgemacht«, sagte Profane in die Matratze.

»Was, was«, sagte Winsome. Neben Murry Sable begann eine Mädchenstimme schläfrig zu erählen, in einer Sprache, die in der Welt der Wachen nicht verstanden wurde. »Wo wart ihr Kerle denn gewesen?« Winsome lief direkt auf die Espressomaschine zu; im letzten Augenblick hielt er inne, sprang auf sie hinauf, setzte sich hin und bediente die Knopfe mit seinen Zehen. Er konnte in die Küche sehen. »Oh, ha, ho«, sagte er; es klang, als hatte man ihn erdolcht. »Oh, mi casa, su casa, Kerle ihr. Wo wart ihr gewesen?«

Charisma tappte mit hängenden Ohren durch eine Pfütze grünlicher Kotze. Der Bernhardiner schlief zwischen den Bierdosen. »Wo denn sonst«, sagte er.

»Rumstromern«, sagte Fu. Der Hund begann feuchte Alptraum-Gestalten anzuheulen.   - (v)

Wohngemeinschaft (3)


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