ohlgeratenheit Ich
habe zwei Brüder, einen älteren und einen jüngeren, die mich für den Dümmsten
von uns dreien halten. Sie sind nicht wohlgeraten: einer schielt, der andre
hinkt. Ich selber bin freilich noch ärger mißraten als sie beide zusammen: x-beinig,
die rechte Schulter tief herabgezogen, und dazu ein Gesicht, das alle Tiere
der Schöpfung abgelehnt haben, aber ich weiß es, und ich weiß auch, was dieses
Gesicht wert ist. Sie wissen nicht, was ihnen fehlt, meine Brüder, noch was
sie haben, sondern was mir fehlt, weil es mir mehr fehlt als ihnen; doch wenn
ich weiß, was mir fehlt, so weiß ich auch, was ich habe und daß ich es weiß.
Sie wissen es nicht. Das, auf dessen Besitz sie stolz sind, besitzen sie eben
nicht: sie besitzen nichts als ihren Mangel an Begabung, wie ich, und sie wissen
es nicht, und sie verstehen es nicht, ihre Armut zu lieben. Sie halten sich
für mehr, nur weil ihnen weniger fehlt als mir. Ich verachte mich nicht, weil
mir mehr fehlt. Eines ist uns dreien gemeinsam: die Dummheit; die Dummheit selber,
welch ein Wunder! und wenn ich weiß, daß ich dumm bin: welch größeres Wunder!
und wenn ich dieses Elend hinnehme, als einen Schmuck ohne Täuschung: o Mirakel
meines Herzens, das seine heimlichste Wurzel in die Ewigkeit senkt! Eines habe
ich mit ihnen gemeinsam: meine Unwissenheit; am
Grunde der Unwissenheit aber welche Kraft der Ahnung, und wenn ich weiß, daß
ich nichts weiß: welch ein Wissen! - Marcel Jouhandeau, Das
Tagebuch des Friseurs. In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964
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