Wissenschaft, gegenderte

Jedes Wissen wird von Subjekten in einem gegebenen historischen Kontext produziert. Selbst wenn Wissenschaft Objektivität anstrebt, selbst wenn ihre Techniken Kontrollmittel dieser Objektivität sein wollen, manifestieren sich in ihr eine Wahl und gewisse Ausschließungen, die sich insbesondere aus dem Geschlecht ergeben, (Luce Irigaray 1989)

Nach unserer Überzeugung verdient diese These, eingehend unter die Lupe genommen zu werden. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Beispiele aus der Physik, mit denen Irigaray ihre These illustriert:

Dieses [wissenschaftliche] Subjekt interessiert sich heutzutage ungeheuer für Beschleunigungen, die unsere menschlichen Möglichkeiten übersteigen, für die Schwerelosigkeit, für das Durchqueren natürlicher Räume und Zeiten, die Überwindung der kosmischen Rhythmen und ihrer Regulationsmechanismen, aber auch für den Zerfall, die Spaltung, die Explosion, die Katastrophen etc. Das zeigt sich in den Naturwissenschaften und den Humanwissenschaften. (Irigaray 1989)

Dieser Katalog aktueller wissenschaftlicher Forschung ist ziemlich willkürlich und vage: Was bedeutet „Beschleunigungen, die unsere menschlichen Möglichkeiten übersteigen", „Durchqueren natürlicher Räume und Zeiten" oder „Überwindung der kosmischen Rhythmen und ihrer Regulationsmechanismen"? Doch was folgt, ist noch eigenartiger:

-   Wenn bei Freud die Identität des Subjekts durch die Spaltung*  bestimmt ist, so bezeichnet dieses Wort auch die Atomspaltung. Nietzsche nahm sein Ego ebenfalls als einen von Explosion bedrohten Atomkern wahr. Was Einstein betrifft, so ist meiner Meinung nach das grundlegende Problem das, daß er uns keine andere Chance als seinen Gott läßt, geht man von seinem Interesse für die Beschleunigungen ohne elektromagnetisches Gleichgewicht aus. Sicher, er spielte Geige; die Musik bewahrte sein persönliches Gleichgewicht. Aber was bedeutet diese allgemeine Relativität für uns, die in den Atomkraftwerken über uns bestimmt und unsere Körperträgheit, eine lebenswichtige Bedingung, in Frage stellt?

-   Bei den Astronomen beschreibt Reaves, im Anschluß an die  amerikanische  Big-Bang-Theorie,  den  Ursprung  des Universums als eine Explosion. Warum diese neue Interpretation, die in den Begriffen so genau mit all den anderen theoretischen Entdeckungen übereinstimmt?

-   René Thom, ein anderer Theoretiker an der Nahtstelle von Naturwissenschaften und Philosophie, spricht eher von Katastrophen durch Konflikte als vom Entstehen durch Überfluß, Wachstum oder positive, insbesondere natürliche Anziehungen.
-   Die Quantenmechanik interessiert sich für das Verschwinden der Welt.

-   Die Wissenschaftler arbeiten heute über immer winzigere, nicht mehr wahrnehmbare Teilchen, die nur mit Hilfe technischer Instrumente und durch Energiestrahlung bestimmbar sind. (Irigaray 1989)

Lassen Sie uns diese Punkte nacheinander durchgehen:
- Im Hinblick auf die Spaltung ist Irigarays „Logik" wahrlich bizarr: Ist sie wirklich der Überzeugung, daß diese zufällige sprachliche Übereinstimmung ein Argument darstellt? Und wenn ja, was zeigt es?
- Zu Nietzsche: Der Atomkern wurde 1911 entdeckt, die Kernspaltung 1938; die Möglichkeit einer Kettenreaktion, die zu einer Explosion führt, wurde in den späten 30er Jahren theoretisch erforscht und in den 40er Jahren traurigerweise experimentell erprobt. Es ist daher höchst unwahrscheinlich, daß Nietzsche (1844-1900) sein Ego „als einen von Explosion bedrohten Atomkern" wahrnehmen konnte. (Natürlich hat dies keinerlei Bedeutung: Selbst wenn Irigarays Behauptung über Nietzsche zuträfe, was wäre damit ausgesagt?) Der Ausdruck „Beschleunigungen ohne elektromagnetisches Gleichgewicht" hat in der Physik keine Bedeutung; er ist Irigarays Erfindung. Es versteht sich von selbst, daß sich Einstein für dieses nicht existente Thema gar nicht interessieren konnte.
Zwischen der allgemeinen Relativitätstheorie und Atomkraftwerken besteht kein Zusammenhang; Irigaray hat sie wahrscheinlich mit der speziellen Relativitätstheorie verwechselt, die für Atomkraftwerke und vieles andere Anwendung findet (Elementarteilchen, Atome, Sterne ...). Der Begriff der Trägheit kommt tatsächlich in der Relativitätstheorie vor, wie auch in der Newtonschen Mechanik; aber er hat nichts mit der „Körperträgheit" beim Menschen zu tun, was immer dies heißen soll.
Inwiefern stimmt die kosmologische Theorie des Big Bang „so genau mit all den anderen theoretischen Entdeckungen" überein? Mit welchen anderen Entdeckungen, die wann gemacht wurden? Irigaray gibt darüber keine Auskunft. usw.

*  Anm. d. Übers.: Auch im französischen Original wird der Begriff auf deutsch gebraucht.

  - Alan Sokal, Jean Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. München 2001

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