irtschaftsleben

Bezahlt wird einer dafür,
daß er die Richtlinien der Politik bestimmt,
daß er schlachtet,
daß er Kierkegaard deutet,
daß er sich ins Bett legt,
daß er Tasten drückt,
daß er seinen Samen spendet,
daß er endlich weiterkommt
bei der Lipotropin-Synthese,
daß er knüppelt, kocht,
bügelt, Tore schießt,
daß er endlich verschwindet.

 - Hans Magnus Enzensberger, Kiosk. Neue Gedichte. Frankfurt am Main 1997 (zuerst 1995)

Wirtschaftsleben (2)  Mag das Wort «Dichter» in der Geschichte des Geistes unserer Zeit auch noch so wenig bedeuten, unauslöschlich werden kommende Geschlechter seine unerwartete Spur in der Wirtschaftsgeschichte vorfinden! Eine Überlegung, wie viele Menschen heute von dem Wort Dichter leben, findet kaum ein Ende, auch wenn man ganz an der wunderlichen Lüge vorbeisieht, daß selbst der Staat behauptet, für nichts da zu sein, als die Künste und Wissenschaften zu göttlicher Blüte zu bringen. Da läßt sich etwa mit den literarischen Professuren und Seminaren beginnen, und man käme von ihnen auf den gesamten Universitätsbetrieb mit Quästoren, Pedellen, Sekretären und anderen, an deren Unterhalt sie teilhaben. Oder man beginnt mit den Verlegern, käme auf die Verlage mit ihren Angestellten, auf die Kommissionäre, die Sortimenter, die Druckereien, die Papier- und Maschinenfabriken, die Eisenbahn, Post, Steuerbehörde, die Zeitungen, die Ministerialdezernenten, die Intendanten: Kurz, je nach Geduld könnte sich jedermann einen Tag lang diese Zusammenhänge kreuz und quer ausmalen, und was sich immer gleich bliebe, wäre, daß alle diese Tausende Menschen bald gut, bald schlecht, bald ganz, bald teilweise davon leben, daß es Dichter gibt: obwohl niemand weiß, was ein Dichter ist, niemand mit Bestimmtheit sagen kann, daß er einen Dichter gesehen habe, und alle Preisausschreibungen, Akademien, Honorar- und Honoratiorenempfänge nicht die Sicherheit geben, daß man einen lebend einfängt.

Ich schätze, daß heute in der ganzen Welt wirklich einige Dutzend von ihnen noch vorhanden sind. Ob sie davon leben können, daß man von ihnen lebt, ist ungewiß: einige werden wohl dazu imstande sein, andere nicht: das ist alles im Dunkel. Wollte man ähnliche Verhältnisse zum Vergleich heranziehen, so ließe sich vielleicht sagen, daß unzählige Menschen davon leben, daß es Hühner oder davon, daß es Fische gibt; aber die Fische und Hühner leben nicht davon, sondern sterben daran. Auch wäre sogar zu bemerken, daß unsere Hühner und Fische selbst eine Weile davon leben, daß sie sterben müssen: Aber dieser ganze Vergleich scheitert daran, daß man von diesen Geschöpfen weiß, was sie sind, daß es sie wirklich gibt und daß sie keine Störung der Fisch- oder Hühnerzucht mit sich bringen, wogegen der Dichter ganz entschieden eine Störung der Geschäfte bedeutet, die sich auf der Dichtung aufbauen. - (nach)

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